1920: Wohnungsbau als Hauptaufgabe

Im Prankel entstand das „Musebrot-Viertel”

von Heinz Keller

Weinheim. Das erste der „Goldenen Zwanziger”  des vergangenen Jahrhunderts war wieder, wie 1919, ein Wahljahr in Weinheim. Doch nach Landtagswahl, Kommunalwahlen und der Wahl zur verfassunggebenden Nationalversammlung, die Weinheims Wahlbürger im Vorjahr dreimal an die Urnen gerufen hatten, blieb es 1920 bei einem Urnengang: am 6. Juni 1920 wurde der erste deutsche Reichstag gewählt. Im 11. badischen Reichstagswahlkreis Mannheim, zu dem auch der Amtsbezirk Weinheim gehörte, wurde der Mannheimer Journalist Oskar Geck (SPD) wiedergewählt. Die Wahlbeteiligung lag in Weinheim bei rund 80 Prozent.

Zwei Bürgermeister

Interessanter für die Weinheimer war 1920 allerdings die Wahl ihres neuen Bürgermeisters. Sie wurde notwendig nach dem Amtsverzicht von Bürgermeister Dr. Karl Alexander Wettstein, der mit gesundheitlichen Problemen des schwer verwundet aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrten Stadtoberhauptes begründet wurde. Um die vakante Stelle bewarb sich der Heidelberger Arbeitersekretär und SPD-Stadt-verordnete Christian Stock, wohl auch mit Blick auf die veränderten politischen Machtverhältnisse im Weinheimer Bürgerausschuss, in dem (Mehrheits-)SPD und Unabhängige SPD seit den Kommunalwahlen vom 1. Juni 1919 mit 38 von 72 Sitzen über die absolute Mehrheit verfügten. Da es noch keine Direktwahl des Stadtoberhauptes durch die Bürger gab, musste der Bürgerausschuss als höchstes Gemeindeorgan die Frage entscheiden, wer künftig die Geschicke der Stadt lenken sollte.

Am 3. Februar 1920 wählten 44 der 72 Mitglieder des Bürgerausschusses den 36-jährigen SPD-Politiker, inzwischen Mitglied der Weimarer Nationalversammlung, zum neuen Weinheimer Bürgermeister. Sein Amt trat Stock allerdings nicht an, denn Anfang März berief ihn Reichspräsident Ebert als Unterstaatssekretär ins Reichswehrministerium. Am 17. März 1920 bat Christian Stock den Weinheimer Bürgerausschuss, ihn von der Übernahme des Bürgermeisteramtes zu entbinden. Das Gremium entsprach der Bitte.

Die zweite Bürgermeisterwahl des Jahres 1920 fand am 10. Mai statt. Sie wurde zu einem überwältigenden Vertrauensbeweis für den 44-jährigen Ettlinger Bürgermeister Joseph Huegel. Vor der Wahl hatten sich alle Fraktionen, mit Ausnahme der USPD, auf ihn als Kandidaten geeinigt und so erhielt Huegel 71 von 81 abgegebenen Stimmen. Die zehn USPD-Stadtverordneten enthielten sich der Stimme. Joseph Huegel war ab 1923 Oberbürgermeister von Weinheim und amtierte bis 1938.

Dringend: Wohnungsbau

In der Kommunalpolitik galt es, die mit dem Ersten Weltkrieg zum Erliegen gekommene Wohnbautätigkeit wieder anzukurbeln. In den ersten der 1920-er Jahre entstanden wieder Häuser und im Prankel begann die schon vor Kriegsausbruch beschlossene südliche Stadterweiterung. Bauherren waren hier vor allem Lehrer an Höheren Schulen, die sich unter großen Opfern ein Eigenheim schufen. Das neue Haus, sagten die Weinheimer damals, „hot aus de Schissel mitgesse” und statt Butter und Wurst gab’s eben nur Mus aufs Brot. Das hat dem Prankel damals den Namen „Musebrot-Vertel” gebracht.

Die großen Industriebetriebe Freudenberg und Hirsch unterstützten die Arbeit der 1911 gegründeten Gemeinnützigen Baugenossenschaft, die vor allem am westlichen Stadtrand zwischen Schlachthof und Gaswerk, aber auch an der Rosenbrunnenstraße und der Alten Landstraße neue Wohnhäuser errichtete. Im Oktober 1920 kaufte die Stadt sechs Baracken aus den ehemaligen Kriegsgefangenenlagern Rastatt und Offenburg und baute sie um für eine Holzhaussiedlung im ehemaligen Kurpark des Stahlbads, dessen übrige Anlagen sie im gleichen Jahr zum Kaufpreis von 180.000 Mark erwarb. Die Bewohner der 20 Kleinwohnungen beim Stahlbad gründeten 1922 den bis heute bestehenden Sparclub Stahlbad.

Zu den kommunalpolitischen Entscheidungen des Jahres 1920 gehört, neben dem Beitritt der Stadt zur Baugenossenschaft und der Schließung der Kriegsküche, der Ankauf des seit den ersten Kriegsjahren geschlossenen Gasthauses „Zum Schwarzen Ochsen” am Fuß des Marktplatzes (heute Altstadt-Galerie).  

Vereine feiern

Im neuen Jahr stehen zahlreiche Vereinsjubiläen an. Der Bayernverein „Bavaria”  feiert sein 125-jähriges Bestehen.  Er ist die älteste aller landsmannschaftlichen Gemeinschaften in Weinheim. Gleich vier Vereine stehen vor ihrem 100. Gründungstag: die 1920 aus der Feuerwehrmusik hervorgegangene Stadt- und Feuerwehrkapelle, die heutige Stadtkapelle, der Evangelische Posaunenchor an der Peterskirche, die Ortsgruppe Weinheim des Touristenvereins „Die Naturfreunde”, der Katholische Deutsche Frauenbund und der TV 1920 Wünschmichelbach.

Auf 75 Jahre kann der MGV Sängervereinigung 1945 zurückblicken, der seit 1981 mit dem MGV Germania 1892 verbunden ist. Ihren 50. Gründungstag feiern der Tennisverein „Grün-Weiß” und der Weinheimer Wassersportclub WWSC 70.