100 Jahre Brauchtumspflege im Heimat- und Kerweverein „Alt Weinheim”
Im Brauchtum lebt die Geschichte der Stadt
von Heinz Keller
Alle Beiträge in diesem Zeitungsarchiv sind erstmals in den Weinheimer Nachrichten erschienen. Die Veröffentlichung auf der Internetseite des Weinheimer Museums erfolgt mit der Zustimmung der DiesbachMedien GmbH.
Josef Huegel trug sie schon in der Vorkriegszeit und seit Theo Gießelmann kommt der Oberbürgermeister, inzwischen schon traditionell, in Alt-Weinheimer Volkstracht zur Eröffnung der Kerwe: mit Dreispitz, schwarzem Mutzen, roter Weste, weißem Leinenhemd und schwarzer Halsschleife. Das Tragen der Tracht ist für das Stadtoberhaupt ein Zeichen seiner Wertschätzung für die Brauchtumsarbeit in der alten Stadt, die seit 1921 eine Pflegestätte hat: den Verein „Alt Weinheim“. Vor 100 Jahren wurde er gegründet, 1987 schloss er sich mit dem Verein Weinheimer Kerwe zum Heimat- und Kerweverein Alt Weinheim zusammen. Mit 450 Mitgliedern ist er eine der großen kulturellen Gemeinschaften Weinheims und tief in der Bürgerschaft verwurzelt. Brauchtumspflege schließt für den Verein die Veranstaltung der Kerwe ebenso ein wie das Tragen der Weinheimer Tracht, die Aufführung von Theaterstücken in Mundart, die Einstudierung alter Volkstänze, den Dienst in der Bürgerwehr, die Pflege der Heimatgeschichte, die Erhaltung und Verschönerung historischer Gebäude wie des Kerwehauses und der Kerwescheuer, die Sammlung von Heimatkundlichem und den Vertrieb von Erinnerungen an die Stadtgeschichte. Über alle diese Themen wollte man im Jubiläumsjahr in besonderen Veranstaltungen berichten, doch Corona hat bislang alle Vorhaben gestoppt. Nun hofft Vorsitzender Peter Gérard, dass nach der erneuten Absage der Kerwe wenigstens der für den 23. Oktober in der Stadthalle geplante Jubiläumsabend stattfinden kann.
Ursprung im Drehscheibklub
Der Verein „Alt Weinheim“ wurde 1921 gegründet. Die Anregung kam vom verdienstvollen Heimatforscher Karl Zinkgräf, damals Vorsitzender des Gemeinnützigen Vereins Weinheim. Karl Zöller, Schöpfer der beiden Kultfiguren Bas Greth und Vetter Philp und Autor zahlreicher heimatgeschichtlicher Theaterstücke, hat als erster Schriftführer in einem Oktavheftchen die Vorgeschichte der Vereinsgründung festgehalten: Die „Hinnergässer Buwe“, die jungen Männer aus der heutigen Nordstadt, kamen damals regelmäßig im Raum um die Peterskirche zusammen. Fünf Gaststätten gab es hier: den „Goldenen Löwen“ (jetzt Ristorante Mario e Maria) und die heute nicht mehr bestehenden Wirtschaften „Zum Schwarzen Adler“, „Zum Weschnitztal“, „Zum Goldenen Schaf“ und „Zur Eintracht“. „Die Drehscheib“ nannte man den beliebten Treffpunkt und „Drehscheibklub“ den Kreis der jungen Männer, die meist aus den Handwerker- und Bauernfamilien der Nordstadt kamen. Die Burschen waren um die 20 Jahre alt und meinten, es sei an der Zeit, den Jahrhunderte alten, seit Jahrzehnten jedoch kaum mehr gepflegten Brauch des Kerwe-Abholens wieder aufleben zu lassen. Dazu gründeten sie einen Verein, nannten ihn „Alt Weinheim“ und machten den Bauernsohn Wilhelm Vogler zum 1. Vorsitzenden, den Bäcker Wilhelm Walther zum 2. Vorsitzenden, den Buchdrucker Karl Zöller zum Schriftführer. Rechner wurde Fritz Ebert, Beisitzer Georg Keck, Georg Hördt und Hermann Bechtold.
Geglückter Neustart
Im Vorfeld der Kerwe 1921 lief allerdings noch alles wie gewohnt: „Pfälzer Hof“ „Weinberg“, „Schwarzer Adler“, „Grünes Laub“ und „Müllheimertal“ priesen ihre Säle an und die Kapellen, die zur Kirchweih Tanzmusik machen sollten, die Bürger-Brauerei kündigte ein Gastspiel des Mannheimer Komikers Seppl Zeyen „mit Gesellschaft von drei Damen und drei Herren“ an, kleinere Gaststätten warben mit Schlachtplatten und Bierspezialitäten um Kerwe-Gäste. Die „Hinnergässer Buwe“ aber wollten zur Kerwe mehr als nur einen flotten Dreher im „Weinberg“ beim Amtshaus. Sie wollten eine Wiederbelebung der alten Kerwe-Bräuche und schritten zur Tat. Im „Weinheimer Anzeiger“ wurde am Kerwe-Montag über den geglückten Neustart (bei erbärmlichem Regenwetter) ausführlich und wohlwollend berichtet: über die Suche nach dem im Hördt’schen Steinbruch im Birkenauer Tal versteckten Kerwe-Kranz, den Kerwe-Zug mit Reitern in Ritter- und Bauerntracht, die Musikkapelle, zwei geschmückte Heuwagen mit fröhlichen Burschen und Mädchen und einer Chaise mit dem Kerwe-Paar und Honoratioren in Gehrock und Zylinder. Der Zug führte durch die Stadt hinaus ins Müll und wieder zurück zur „Eintracht“, wo der“ Kerweparre“ von der hohen Kanzel Geschehnisse im zurückliegenden Jahr und kommunalpolitische Themen glossierte.
1922 beteiligte sich der mit der Freude am Althergebrachten schnell wachsende Verein erstmals am Sommertagszug, dessen Spitze seither vom Brezelträger und der Kindergruppe von „Alt Weinheim“ gebildet wird. 1924 wurde der erste „Weinheimer Abend“ mit einem gemeinsam von Philipp Randoll und Karl Zöller verfassten Theaterstück gestaltet. Seit 1925 gibt es zur Kerwe den Ratstrunk und die Übergabe der Kerwesymbole Brot und Wein an das Stadtoberhaupt.
Sendboten Weinheims
Vom ersten auswärtigen Auftreten beim „Alemannisch-fränkisch-pfäzischen Sonntag“ 1924 in Karlsruhe an waren die Trachtengruppe und die 1934 auf Anregung von Oberbürgermeister Huegel gegründete Bürgerwehr bei unzähligen Volksfesten als Sendboten ihrer Heimatstadt unterwegs. Ab 1929 gehörte „Alt Weinheim“ zu den Trachtengruppen des Süddeutschen Gauverbandes für Volks- und Gebirgstrachten, seit den 1960er Jahren sind die Weinheimer der nördlichste Repräsentant des Trachtengaues Schwarzwald.
Höhepunkte in der Vereinsgeschichte waren die großen Trachtenumzüge zum 30- und zum 50jährigen Bestehen mit jeweils mehr als 1.000 Trachtenträgern, das Freundschaftstreffen des Trachtengaues Schwarzwald 1982 in Weinheim mit mehr als 2.000 Trachtenträgern, die Landestreffen der badisch-hessischen Bürgerwehren und Milizen 1936, 1955 und 2009, mehrmals Kommandanten-Tagungen auf der Wachenburg und 1987 eine Arbeitstagung der Europäischen Gemeinschaft historischer Schützen.
Glockenspiel fürs Alte Rathaus
Zum 75jährigen Bestehen machte der Verein anstelle einer Großveranstaltung seiner Heimatstadt ein besonderes Geschenk: das Glockenspiel vom Turm des Alten Rathauses mit 14 in Holland gegossenen Glocken. Seit 1997 erklingen täglich dreimal nach dem Zeitglockenschlag beliebte Volks-, Wander- und Studentenlieder. Unter den 24 Melodien ist natürlich das Badnerlied, ohne das im Trachtengau Schwarzwald nichts läuft, aber auch Hymnen an die Heimatstadt wie „Geliebtes Weinheim“ oder „Weinheim, wie schön bist du“.
Internationale Freundschaften
Die jahrzehntelange Hauptaufgabe der Brauchtumspflege, zu der auch die Herausgabe heimatkundlicher Schriften gehörte, erfuhr 1961 eine Erweiterung durch die Partnerschaft mit der provencalischen Folkloregruppe „Li Parpaioun Blue“, den „Blauen Schmtterlingen“ aus Weinheims südfranzösischer Partnerstadt Cavaillon, die seitdem in regelmäßigen Begegnungen gepflegt wird. Auch die jüngsten Weinheim-Botschafter, die 1988 gegründete Kindertanzgruppe, pflegten internationale Freundschaften. 1994 besuchten sie das internationale Kinder-Trachtentreffen im südungarischen Szekeszard und begrüßten die Kinder aus dem Banat im gleichen Jahr zur Weinheimer Kerwe.
Die Brauchtumspflege im Verein „Alt Weinheim“ hat viele Namen. Für sie mögen Philipp Randoll, Karl Zöller, Philipp Pflaesterer, Wilhelm Wütherich, Philipp Pfrang, Karl Kreis, Karl Lohrbächer und Peter Gérard stehen, seit 1997 Vorsitzender.
Fusion mit dem Kerweverein
Der alte Brauch des Kerwe-Abholens, 1921 von den „Hinnergässer Buwe“ wiederbelebt und Anlass zur Gründung von „Alt Weinheim“, geriet Mitte der 1950er Jahre in eine Krise. Um das alte Kerwe-Brauchtum zu retten und zeitgerechter auszugestalten, engagierten sich Mitglieder des Gewerbevereins, des Verkehrsvereins, des Vereins „Alt Weinheim“ und des Hotel- und Gaststättenverbandes 1957 unter dem Vorsitz von Karl Schröder in einem Kerwe-Ausschuss, der dem Volksfest ein völlig neues Gesicht gab und damit den regionalen Erfolg der heutigen Weinheimer Kerwe begründete. 1966 gab sich der Kerwe-Ausschuss die Vereinsform und 1987 schlossen sich Kerweverein und „Alt Weinheim“ zum Heimat- und Kerweverein „Alt Weinheim“ zusammen. Für die vielen Frauen und Männer, die seit 1957 für die Kerwe und das Brauchtum gearbeitet haben, stehen vor allem Karl Schröder, Karl Lohrbächer und der nimmermüde Ideengeber Werner Schilling.
„Alt Weinheim” duftet
Übrigens: seit 1997 duftet „Alt Weinheim”. Im Kerwehaus wurde eine Züchtung des Steinfurther Rosenzüchters Jürgen Weihrauch auf den Namen „Alt Weinheim“ getauft.
(2021, © www.wnoz.de)