Bürgermeister Wettsteins Pension

Sommerthema 1919: der Amtsverzicht des Bürgermeisters. Der Streit um Dr. Karl Alexander Wettsteins Pension.

Bürgermeister Dr. Karl Alexander Wettstein, 1912.
Bürgermeister Dr. Karl Alexander Wettstein 1912 mit der Amtskette. Bild: Stadtarchiv (in WN erschienen 25.5.2012)

von Heinz Keller

Weinheim. Es war das Sommerthema in der Weinheimer Kommunalpolitik vor 100 Jahren: der Amtsverzicht von Bürgermeister Dr. Karl Alexander Wettstein (1872-1921, sieben Jahre nach seiner Wahl und ein gutes Jahr vor dem Ablauf der Wahlperiode. Die am 23. Juli 1919 verkündete Amtsniederlegung hatte allerdings nichts mit den neuen Mehrheitsverhältnissen in Bürgerausschuss und im Gemeinderat zu tun, auch wenn es Hinweise gab, der Bürgermeister habe angeboten, sein Amt mit Rücksicht auf das Ergebnis der Kommunalwahl vom 1. Juni niederzulegen.

Allerdings: die drei Wahlgänge, die 1919 zu einem Superwahljahr machten – Badischer Landtag, Deutsche Nationalversammlung und Stadtverordnetenversammlung in Weinheim  , hatten die politische Landschaft in der Tat verändert. Die ersten Kommunalwahlen nach dem Ende des Ersten Weltkriegs hatten den 14.500 Weinheimern eine von SPD und USPD dominierte Stadtverordnetenversammlung gebracht, in der die (Mehrheits-)Sozialdemokraten 28 der 72 Sitze einnahmen, die linken Unabhängigen Sozialdemokraten zehn. Die neuen Kräfteverhältnisse im Bürgerausschuss, den die 72 Stadtverordneten und die von ihren gewählten 12 Gemeinderäte (SPD 5, USPD 1, DDP 3, DNVP 2, Zentrum 1) bildeten, machten es Bürgermeister Dr. Wettstein nicht gerade leicht, seine bisher eher bürgerlich betonte Kommunalpolitik weiterzuführen.

Sozialdemokratischen Gegenwind hatte der gebürtige Karlsruher schon kurz nach seiner überzeugenden Wahl zum Amtsnachfolger von Bürgermeister Heinrich Ehret am 6. Februar 1912 verspürt: 60 von 97 Stadtverordneten hatten ihm ihre Stimme gegeben, doch drei SPD-Kommunalpolitiker legten Einspruch gegen das Wahlergebnis ein. Sie glaubten, dass der bisherige Bürgermeister Heinrich Ehret durch Androhung finanzieller Nachteile bei seiner Altersversorgung zum Verzicht auf eine Wiederwahl genötigt worden sei. Der Einspruch verhinderte die Amtseinführung des neuen Bürgermeisters, der fortan bei seinem eigentlichen Amtsvertreter Georg Friedrich Vogler als Hilfsarbeiter tätig wurde.

Der Bezirksrat des damaligen Amtsbezirks Weinheim wies den SPD-Einspruch allerdings zurück und endgültig scheiterte die Klage vor dem Großherzoglich Badischen Verwaltungsgericht. Ende Mai 1912 konnte Dr. Wettstein seine neue Aufgabe in Weinheim übernehmen. Es wurde eine kurze Amtszeit, die nur wenige Spuren in der Stadtgeschichte hinterlassen hat. Das lag auch daran, dass schon knapp zweieinhalb Jahre nach ihrem Beginn der Erste Weltkrieg ausbrach und Dr. Wettstein als Major der Reserve bereits nach sieben Tagen schwer verwundet wurde und in französische Kriegsgefangenschaft geriet.

Die Stadt Weinheim bemühte sich für ihren Bürgermeister beim Internationalen Roten Kreuz um einen Gefangenenaustausch, musste sich aber gedulden. 1916 wurde Dr. Wettstein von den Franzosen in Schweizer Internierung entlassen und kehrte Ende 1917 als kranker Mann nach Weinheim zurück. Im September 1917 leitete er erstmals wieder eine Gemeinderatssitzung. Schon während der Gefangenschaft hatte sich Dr. Wettstein um die finanzielle Versorgung seiner Familie in Weinheim gesorgt und nach seiner Rückkehr kämpfte er darum, dass seine schwere Verwundung in einem Zusatz zu seinem Dienstvertrag als Dienstbeschädigung anerkannt werde. Eine Korrektur seiner Pensionsansprüche aber lehnten sowohl der alte als auch der 1919 neu gewählte Gemeinderat „in Abstimmung mit den Fraktionen des Bürgerausschusses“ ab. Die Stadt stellte sich auf den Standpunkt, dass die Krankheit, die eine Wiederwahl des Schwerverwundeten ausschloss, nicht auf seine Tätigkeit im Weinheimer Rathaus, sondern auf seine Kriegsverletzung zurückzuführen sei. Auf das Scheitern seiner Gespräche mit dem Gemeinderat reagierte Dr. Wettstein mit dem Amtsverzicht.

Im Bürgerausschuss, dessen Sitzungen Dr. Wettstein aufgrund seiner Verletzungen öfter nicht leiten konnte, wurde bald schmutzige Wäsche gewaschen. Dem abwesenden Bürgermeister warf Jakob Emig, Vorstandsmitglied der USPD, Vetterleswirtschaft vor und sein Fraktionskollege Georg Stößer, Soldatensprecher im Arbeiter- und Soldatenrat, der nach der November-Revolution zusammen mit der Stadtverwaltung die Stadt regierte, meinte, das Wohnungselend in Weinheim wäre vermeidbar gewesen, wenn sich die Stadt früher darum gekümmert hätte. Deshalb trage der Bürgermeister daran einen Großteil Schuld. Der USPD-Mann wünschte sich auch, dass der Bürgermeister einen Teil seiner Dienstwohnung im stadteigenen Bürgermeisterhaus („Gelbes Haus” an der Bahnhofstraße, heute hinter der Boutique Azzurro) an Wohnungssuchende abtreten „und damit den übrigen Villenbesitzern ein Beispiel geben“ würde. Dr. Wettstein wehrte sich gegen die Vorwürfe mit dem Hinweis auf die Bemühungen der Stadt, zusammen mit Baugenossenschaft und Bauverein neuen Wohnraum zu schaffen.

Auch nach seinem Amtsverzicht kämpfte Dr. Wettstein in monatelangen Prozessen um seine Pension. Erst 1920 sicherte ihm ein Gerichtsurteil eine Neuregelung zu. Da lebte Dr. Wettstein wieder in Karlsruhe und Weinheim erlebte mit Wahl und Verzicht des Heidelberger Arbeitersekretär Christian Stock eine weitere Bürgermeisterkrise. Wir werden auch daran erinnern.

Dr. Karl Alexander Wettstein, Hauptmann in der badischen Armee, Schutztruppe-Offizier in Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia), Vermessungsingenieur beim Eisenbahnbau im brasilianischen Urwald, abgebrochener Jurist und promovierter Nationaloekonom, stellvertretender Reichsfeldmeister im Bund Deutscher Pfadfinder, starb am 25. Juni 1921 im Baden-Badener Krankenhaus. Seine Witwe kehrte mit dem in der Deutschen Kolonie Blumenau geborenen und in Weinheim aufgewachsenen Sohn nach Brasilien zurück. Professor Dr. Hans Joachim Wettstein, den seine Mitschüler am „Schiff“, dem Weinheimer Gymnasium, „Wetze” nannten, besuchte 1979 die Stadt seiner Jugend auf Einladung von Oberbürgermeister Theo Gießelmann, der dem Sohn eines seiner Amtsvorgänger 1971 in Brasilien begegnet war, als er in seiner Eigenschaft als Präsident des Badischen Sportbundes den Badischen Landesschützenverband auf einer Brasilien-Reise begleitete.

Selma und Dr. Karl Alexander Wettstein und Oberbürgermeister Gießelmann

Bürgermeister-Sohn Professor Dr. Hans Joachim Wettstein und seine Frau Selma wurden 1979
von Oberbürgermeister Gießelmann empfangen. Bild: WN-Archiv (erschienen 20. 6. 1979)