1911: Ein Plan zur südlichen Stadterweiterung

Karchers Vision von einer Gartenstadt

Karl Karchers „Bebauungsplan des südlichen Gemarkungsteils von Weinheim“ von 1910.
Karl Karchers „Bebauungsplan des südlichen Gemarkungsteils von Weinheim“ von 1910 macht deutlich, wie sich der Stadtgeometer die Stadterweiterung vorstellte: mit drei Straßenachsen von Norden nach Süden. Plan: Stadtarchiv Weinheim.

von Heinz Keller

Weinheim. Es war das seit Jahren geforderte kommunalpolitische Signal: am 18. Januar 1911 folgte der Bürgerausschuss der Empfehlung des Gemeinderats und stimmte dem von Stadtgeometer Karl Karcher erarbeiteten „Bebauungsplan des südlichen Gemarkungsteils von Weinheim“ zu. Was folgte, ist bekannt: erst Weltkrieg, dann Inflation. Erst nach den Inflationsjahren konnte wieder an Wohnungsbau gedacht werden: ab 1925 entstanden im Prankel Straßen und Häuser. Zwei Drittel der Bauherren waren Beamte, Angestellte und Selbständige. Viele Weinheimer Lehrer kamen fortan aus dem Prankel, den Dr. John Gustav Weiß, der Verfasser der ersten Stadtgeschichte (1911), in seiner Liste der Gewannnamen mit Brunnquelle erklärt, dem Gelände zwischen dem heutigen Staffelprankelweg und dem Gänsemann-Brunnen aber auch die Namen Brunckelle, Brunckwil, Brunkhulle oder Bronnquelle nachsagt. Der Flurname ist seit 1381 bekannt.

Karchers Bebauungsplan darf man 110 Jahre später durchaus als visionär bezeichnen. Es sollte „eine Gartenstadt entstehen, um die Weinheim wohl von vielen Städten beneidet werden wird, und die zweifellos bald eine wohlhabende Bevölkerung von auswärts heranziehen wird“. Für den Leiter des städtischen Vermessungsamtes war das Plangebiet „das schönste und das gesündeste der ganzen Gemarkung“, abgeschirmt „von der Innenstadt mit ihren Fabriken“ – Karcher meinte die Freudenberg’sche Lackierfabrik – „und ihrem intensiven Verkehr, aber auch nahe dem Stadtzentrum und den Bahnhöfen“.

Der Stadtgeometer plante so weit voraus, weil er für Weinheim bis 1960 etwas über 48.000 Einwohner prognostizierte. Deshalb sei die Stadterweiterung dringend notwendig. Über 57 Hektar Gartenland, Weinberge und Ackerland umfasste das Plangebiet, das von zwei Straßen durchzogen wurde: der Prankelstraße mit der Ziegelhütte Sommer am unteren und der Villa von Carl Freudenberg am oberen Ende, und der Lützelsachsener Straße, an der damals nur ein Haus stand.

Karcher wollte die Gartenstadt in drei Abschnitten erschließen: zunächst im Norden zwischen Prankelstraße und Fabrikweg (heute Kopernikusstraße), dann zwischen Prankelstraße und Lützelsachsener Straße und schließlich östlich davon bis zum Waldrand am Judenbuckel.

Diese ehrgeizigen Ziele, vor 110 Jahren formuliert, wurden im heutigen Musikerviertel, im Michelsgrund und am Wüstberg nach dem Zweiten Weltkrieg erreicht. (Unser Hauptbericht erzählt davon).

Im Stadtarchiv wird Karchers Stadtplan von 1911 verwahrt, in dem die neue Straßenführung angedeutet ist. Schon damals plante Karcher mit den heutigen Achsen Friedrich-Vogler-Straße/Weberstraße, Freudenbergstraße/Mozartstraße und schließlich Weinbergstraße.

Zwischen Hausackerweg und Wagnerstraße sollte eine 16.000 Quadratmeter große Grünanlage entstehen. Einen weiteren Anlagenstreifen plante Karcher auf der Westseite der (bis heute) nur einseitig bebauten Rosenbrunnenstraße. „Dadurch wird der Staub der Bergstraße und der Ruß vom Güterbahnhof aufgefangen und so werden die Bauplätze an dieser Straße wertvoller“ (Karcher).

Neben dem Straßenbau, mit dem nach dem Ersten Weltkrieg als Notstandsmaßnahme begonnen wurde, sprach Karchers Bebauungsplan-Kommentar auch die Trinkwasserversorgung und die Abwasserbeseitigung an. Die Wasserversorgung war auf Jahre gesichert durch das Hauptreservoir am Geiersberg, das später aber um ein neues Reservoir erweitert werden müsse. Der Wasserhochbehälter in der Nachbarschaft des Bodelschwinghheims erfüllt seit 1963 den Versorgungsanspruch der höher gelegenen Wohngebiete.

Viel dringender war indes die Abwasserentsorgung, denn es gab in jener Zeit nur offene Ablaufgräben entlang der Prankelstraße, die oft verschlammten, bei Regen überliefen und im Sommer übel rochen. Erst 1927 und 1933 wurden Abwasserkanäle gebaut. (2011)