Vor 50 Jahren: Das Denkmodell des Landes zur Gebietsreform war heftig umstritten

Walter Krause sorgte für ein Raunen im Kreis

von Heinz Keller

Seit 68 Jahren leben wir in Baden-Württemberg, seit 47 Jahren im Rhein-Neckar-Kreis. Die Erinnerungen an das Großherzogtum Baden, die Republik Baden und die Besatzungszonen der Nachkriegsjahre sind verblasst wie das Bewusstsein, einmal ein Auto mit dem Kennzeichen MA gefahren zu haben. Länder-Neugliederung und Kreisreform waren vor 50 Jahren heftig umstritten, ihre Ergebnisse sind heute gelebter Alltag.

Als am Jahresende 1969 ein Denkmodell des von Walter Krause (SPD) geführten Stuttgarter Innenministeriums zur Gebietsreform in Baden-Württemberg bekannt wurde, ging ein Raunen durch die Kommunen. Die Sozialdemokraten in der Großen Stuttgarter Koalition wollten von 63 Land- und neun Stadtkreisen nur noch 25 Land- und fünf Stadtkreise übrig lassen und auch die Zahl der Regierungspräsidien von vier auf zwei verringern. Große Verwaltungseinheiten waren das Ziel der Reform, die der Koalitionspartner CDU zwar mittrug, aber weniger radikal ausgestalten wollte. Das christdemokratische Alternativmodell sah am Ende des allseits als notwendig erkannten Reformprozesses 38 Land- und acht Stadtkreise in Baden-Württemberg vor. Nach hitzigen Debatten gab es am 22. Juli 1971 im Landtag einen Kompromiss: 82 Abgeordnete stimmten für den Regierungsentwurf zur Kreisreform, 34 waren dagegen.

Seit 1. Januar 1973 ist das Kreisreformgesetz in Kraft, mit dem 32 Landkreise in Baden-Württemberg neu gebildet wurden und nur drei unverändert blieben.

Im Rhein-Neckar-Kreis

Seit Jahresbeginn 1973 gehört die badische Bergstraße mit Weinheim als Mittelpunkt zum Rhein-Neckar-Kreis. Er entstand aus den Altkreisen Mannheim und Heidelberg, der nördlichen Hälfte des ehemaligen Landkreises Sinsheim und der Gemeinde Lindach des Altkreises Mosbach. Mit aktuell 548.562 Einwohnern (2019) ist der Rhein-Neckar-Kreis der einwohnerstärkste Landkreis in Baden-Württemberg und der fünftgrößte in Deutschland.

Unter seinen 54 Städten und Gemeinden ist Weinheim die größte Kommune. In der Nachbarschaft des Kreiskrankenhauses, der heutigen GRN-Klinik, und des vor der Eröffnung stehenden neuen Kreispflegeheims, das sich GRN-Betreuungszentrum nennen wird, befinden sich Außenstellen der Kreisverwaltung wie die Kfz-Zulassungsstelle, das Jugendamt, Sozialamt, Straßenverkehrsamt, Veterinäramt und Verbraucherschutz, Fahrerlaubnisstelle und Forum Ernährung. Sie stehen, zusammen mit den Berufs- und Sonderschulen in Kreisträgerschaft und den Einrichtungen der Abfallwirtschaft, für das Reformziel, auch in größeren Verwaltungseinheiten Bürgernähe zu erhalten.

Der Kampf um MA

Die Gebietsreform in Baden-Württemberg, die die kommunale Verwaltung für die Erfüllung zunehmend komplexer werdender Aufgaben stärken sollte, fand nicht überall Zustimmung. Vor allem nicht dort, wo Landkreise verschwinden oder verändert wurden sollten. Beispielsweise im Landkreis Mannheim, der nach den Stuttgarter Plänen in einem Großkreis Heidelberg mit über 430.000 Einwohnern aufgehen sollte.

Im letzten Quartal 1970 formierten sich im Rhein-Neckar-Raum die Gegner der Kreisreformpläne und forderten den Erhalt des Landkreises Mannheim mit der Begründung, seine Verwaltungs- und Finanzkraft reiche aus, auch die Aufgaben der Zukunft zu erfüllen. „Keine Zwangsehe mit den Nachbarkreisen“ titelten die WN ihren Bericht über eine Bürgermeisterversammlung in Leutershausen und ihre Resolution gegen das Denkmodell der Landesregierung. Zwei Wochen später tagte der SPD-Bezirksverband Nordbaden im Weinheimer Rolf-Engelbrecht-Haus und stärkte Innenminister Walter Krause und seiner Meinung den Rücken, der geplante Großkreis Mannheim-Heidelberg-Sinsheim sei „in sich ausgewogen und auch als sozio-ökonomische Einheit zu betrachten“.

Den Minister-Thesen widersprach der im Juni 1970 zum Amtsnachfolger von Dr. Valentin Gaa gewählte neue Mannheimer Landrat Albert Neckenauer: statt funktionierender gewachsener Einheiten würden gemeindliche Riesengebilde mit großen Verwaltungen und weiten Wegen für den Gemeindebürger entstehen. Neckenauer kritisierte auch die Zielplanung der gleichzeitig anlaufenden Gemeindereform, nach der es im Kreisgebiet künftig nur noch sieben Großgemeinden (Weinheim, Hemsbach, die Sachsendörfer, Schriesheim, Ladenburg, Hockenheim und Schwetzingen) geben sollte, an die sich die umliegenden 20 Gemeinden anlegen müssten.

Doppeltes Nein aus Weinheim

Der Weinheimer Gemeinderat debattierte am 25. November 1970 über die Stellungnahme der Stadt zum Stuttgarter Regierungsentwurf. Sie spaltete das Stadtparlament: gegen zehn Stimmen aus der SPD-Fraktion lehnten die Fraktionen von PWV, CDU und Mittelstandsblock das Kreisreformgesetz ab, weil es die Grenzlandprobleme Weinheims nicht berücksichtige und weil eine verbindliche Erklärung des Landes fehle, dass das in Planung befindliche Kreiskrankenhaus auch vom neuen Kreis alsbald gebaut werde.

Am 3. Dezember 1970 erteilte in der Aula der Weinheimer Gewerbeschule auch der Kreistag dem Gesetzentwurf eine deutliche Abfuhr: nur neun von 50 Kreisverordneten stimmten für ihn, ohne damit allerdings grundsätzlich die Notwendigkeit der Kommunalreform in Frage zu stellen. Von den Fraktionssprechern votierte nur Wolfgang Daffinger (SPD) für das Reformgesetz, Herbert Kunkel (CDU), Richard Freudenberg (FWV) und Dr. Wacker (FDP) lehnten es ab.

Entscheidung im Landtag

Die Entscheidung über die Bildung des Rhein-Neckar-Kreises fiel am 22. Juli 1971: im Landtag stimmten 70 Abgeordnete für den Großkreis, 45 für die Erhaltung der bisherigen Landkreise. Am 22. September 1972 wählte der Übergangs-Kreistag aus den Mitgliedern der bisherigen Kreisparlamente den ehemaligen Heidelberger Landrat Georg Steinbrenner zum Amtsverweser.

Mit großer Spannung wurde am 13. Juli 1973 die Wahl des ersten Landrats im neuen Rhein-Neckar-Kreis erwartet. Albert Neckenauer setzte sich mit 63:56 Stimmen gegen Georg Steinbrenner durch. Bei seiner Wiederwahl 1981 hatte Neckenauer keinen Gegenkandidaten und amtierte bis 1986. Richard Freudenberg hatte als Alterspräsident die konstituierende Sitzung des neuen Kreistages Rhein-Neckar eröffnet.

Inzwischen ist das „Kind“ der Kreisreform, der Rhein-Neckar-Kreis, erwachsen geworden. Nicht alle, aber die meisten Erwartungen an ihn wurden erfüllt und so trifft auch für ihn das Urteil der „Stuttgarter Zeitung“ über die Kreisreform zu: „Vom Zankapfel zum Erfolgsmodell“. Letztlich habe die Gebietsreform die Landkreise fit gemacht für die Bewältigung neuer Aufgaben. Der Ausbau des Berufsschulwesens, der Abfallbeseitigung oder des Krankenhauswesens wäre ohne die gestärkte Verwaltungskraft der Landkreise kaum zu stemmen gewesen, heißt es in einer Bilanz der Kreisreform nach fast 48 Jahren. (2020)

Als Alterspräsident eröffnete Richard Freudenberg die konstituierende Sitzung des ersten Rhein-Neckar-Kreistags. Hinter ihm von links die drei bisherigen Landräte Albert Neckenauer (Mannheim), Dr. Paul Hermann (Sinsheim) und Georg Steinbrenner (Heidelberg).

Die ersten Kreisräte im Rhein-Neckar-Kreis

Am 8. April 1973 fand die Wahl zum ersten Kreistag des neuen Rhein-Neckar-Kreises statt. Bei einer Wahlbeteiligung von 56,4 Prozent entfielen auf die CDU 45,5 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen, auf die SPD 34,3 Prozent, auf die Freien Wähler 14,1 Prozent und auf die FDP 6,1 Prozent. Die Sitzverteilung im neuen Kreistag: CDU 56, SPD 41, FWV 16, FDP 7.

23 der 120 Mitglieder im ersten Kreistag kamen aus Bergstraßengemeinden: neun Kreisräte der CDU: Peter Becher (Schriesheim), Martin Bitzel (Großsachsen), Karlheinz Christophel und Fritz Kessler (beide Heddesheim), Gerd Kronauer (Hemsbach), Herbert Kunkel (Leutershausen), Lilly Pfrang, Willi Schmitt und Ernst Schröder (alle Weinheim); neun Kreisräte auch in der SPD-Fraktion: Hartmut Brunner (Heddesheim), Wolfgang Daffinger, Karl Eschwei, Jakob Hohenadel, Uwe Kleefoot und Hermann Reibel (alle Weinheim), Fritz Kaiser (Laudenbach), Rolf Schimanski (Hemsbach) und Willi Schmitt (Schriesheim); fünf Kreisräte in der FWV-Fraktion: Lothar Bock (Hohensachsen), Theo Gießelmann (Weinheim), Peter Hartmann (Schriesheim), Hans Hohmann (Weinheim) und Ludwig Trautmann (Lützelsachsen).