Weinheim und die Reichstagswahlen im Kaiserreich
von Heinz Keller
Alle Beiträge in diesem Zeitungsarchiv sind erstmals in den Weinheimer Nachrichten erschienen. Die Veröffentlichung auf der Internetseite des Weinheimer Museums erfolgt mit der Zustimmung der DiesbachMedien GmbH.
Am Vorabend der Wahl zum 20. Deutschen Bundestag ist ein Rückblick auf 13 Reichstagswahlen im Kaiserreich und auf neun Wahlgänge in der Zeit der Weimarer Republik auch ein Hinweis auf die Entwicklung der politischen Stimmung in Weinheim, wo schon von 1861 bis 1867 ein Ortsverein des Deutschen Nationalvereins als Vorläufer der Nationalliberalen Partei (NLP) bestand. Die NLP wurde 1869 im „Schwarzen Adler“ an der Petersbrücke gegründet, mit Mühlenbesitzer Georg Hildebrand, Engel-Apotheker Albert Wilhelm Klein, Gastwirt Peter Köhler, Ratschreiber Adam Krafft, Notar Daniel Nischwitz, Georg Rudolph Pfrang und dem evangelischen Stadtpfarrer Julius Zähringer an der Spitze. Die auch für Baden frühe Gründung einer nationalen und liberalen Partei in einem gerade mal 6.000 Einwohner zählenden Städtchen war zwei Jahre später für den Reichstags-Wahlkampf im 11. badischen Wahlkreis Mannheim sicherlich sehr hilfreich.
Männerwahlrecht
Am 3. März 1871, zwei Monate nach der Gründung des Deutschen Kaiserreichs, wurden auch die über 25 Jahre alten Männer aus Weinheim und von der Bergstraße aufgerufen, erstmals eine gesamtdeutsche Volksvertretung zu wählen. Sie gaben ihre Stimme im Wahlkreis Mannheim ab, den die Bezirksämter Mannheim, Weinheim und Schwetzingen bildeten, und wählten nach „allgemeinem, gleichem und direktem Männerwahlrecht“, denn Frauen waren (noch bis 1919) von der Wahl ausgeschlossen wie Soldaten und Behinderte. Dieses Wahlrecht repräsentierte allerdings nur 19,4 Prozent der Reichsbevölkerung. In jedem Wahlkreis wurde ein Reichstagsmandat vergeben an den Kandidaten, der die absolute Stimmenmehrheit erreichte, notfalls entschied eine Stichwahl.
Nationalliberaler Starterfolg
Erster Vertreter des Wahlkreises Mannheim im Deutschen Reichstag wurde 1871 der für die Nationalliberalen kandidierende Mannheimer Rechtsanwalt Dr. August Lamey (1816-1899), Enkel des Gründers der „Mannheimer Zeitung“. Er war einer von zehn nationalliberalen Abgeordneten aus dem Großherzogtum Baden, das insgesamt 14 Abgeordnete nach Berlin entsandte.
August Lamey war einer der führenden Vertreter der südwestdeutschen Liberalen und stieß mehrere Reformen an. Sie brachten eine klare Trennung von Kirche und Staat, amnestierten die Revolutionäre von 1848/49, sorgten für eine weitgehende Gewerbefreiheit und für die staatsrechtliche Gleichstellung aller Bürger und damit auch für die Gleichberechtigung der Juden in Baden. Lameys „Judenfreundlichkeit“ nahmen die Nationalsozialisten 1935 zum Anlass, das 1904 in Mannheim für den Ehrenbürger errichtete Denkmal vom Kaiserring zu entfernen.
Von Lamey zu Scipio
Auch die beiden nächsten Reichstagswahlen, 1874 und 1877, gewann im Wahlkreis Mannheim ein Nationalliberaler: der Mannheimer Gutsbesitzer Ferdinand Scipio (1837-1905), der zudem 1890 in den Reichstag zurückkehrte, diesmal allerdings für den hessischen Wahlkreis Bensheim-Erbach.
Ferdinand Scipio, akademisch ausgebildeter Zivilingenieur, war ein umtriebiger Mensch. Als Förderer neuer landwirtschaftlicher Methoden baute er im hinteren Odenwald das Hofgut Rineck auf, das heute neben der Landwirtschaft auch ein Seminar- und Gesundheitszentrum für alternative Heilmethoden beherbergt. Doch Scipio war mehr als der Besitzer eines Hofguts, das auf den kargen Böden im Elztal wenig einbrachte. Ein 2011 erschienenes Buch des Mannheimer Historikers Dr. Sebastian Parzer beschreibt den Gutsbesitzer Ferdinand Scipio als „Bankengründer, Politiker und Kolonialunternehmer in Afrika“. Scipio war in der Region an der Gründung von zwei Banken und fünf Unternehmen beteiligt und engagierte sich ab 1882 in der Deutschen Kolonial-Gesellschaft. Er war Mitbegründer der Deutschen Kolonial-Gesellschaft für Südwestafrika, der Kamerun-Land- und Plantagen-Gesellschaft, der Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft, der Neuguina-Kompanie und der Afrikanischen Dampfschiffs-AG Woermann-Linie. 1889 erwarb Scipio am Fuß des Kamerunberges Ländereien und gründete die Pflanzungs-Gesellschaft Scipio, die küstennah eine Kakao-Plantage anlegte. Nach Ferdinand Scipios Tod 1905 setzte sein Sohn Wilhelm das Afrika-Engagement in der geerbten Idenau-Plantage fort, auf der nun auch Kautschuk, Bananen und Ölpalmen angebaut werden. 1919 wurden die Besitzer der Pflanzungen in den ehemaligen deutschen Kolonien entschädigungslos enteignet.
Die „Attentatswahl”
1877 verteidigte Ferdinand Scipio das Mandat im Wahlkreis Mannheim mit der dafür erforderlichen absoluten Mehrheit der Stimmen. Dann kamen der 11. Mai 1878 und das Attentat des Arbeiters Max Hödel auf Kaiser Wilhelm I., knapp vier Wochen später ein zweites Kaiser-Attentat, danach die Auflösung des Reichstages und Neuwahlen. Bei der so genannten „Attentatswahl“ erreichte Ferdinand Scipio zwar mit 7076 Stimmen einen klaren Vorsprung gegenüber seinem stärksten Mitbewerber Wilhelm Kopfer, der als Kandidat der linksliberalen Deutschen Volkspartei (DtVP) auf 4019 Stimmen kam und damit eine Stichwahl erzwang. Die Aufregung darüber war in Weinheim groß, der „Weinheimer Anzeiger“ warb täglich parteiisch für „unseren Candidaten“ und die gesamte städtische Prominenz vereinte sich in einem Wahlaufruf für Scipio. Es half nichts: mit einem Bündnis aus Konservativen, Ultramontanen und Sozialdemokraten gewann Scipio zwar in den Amtsbezirken Weinheim und Schwetzingen, verlor aber hoch in Mannheim.
Der Kaufmann Wilhelm Kopfer (1813-1887) stammte aus dem Westerwald und war Gründer der Tabakfabrik Gießen. Nach seiner Übersiedlung nach Mannheim engagierte er sich in der Kommunalpolitik, beteiligte sich an der Gründung der Chemischen Fabrik in Rheinau, wurde Präsident der Handelskammer Mannheim und des deutschen Handelstages. Bei den Reichstagswahlen 1881 und 1884 verteidigte Kopfer sein Mandat, 1884 in einer Stichwahl mit dem NLP-Kandidaten Eckard.
Wieder nationalliberal
Wilhelm Kopfer legte 1886 sein Reichstagsmandat nieder. Die Wahl am 21. Februar 1887 gewannen die Nationalliberalen mit dem Mannheimer Unternehmer Philipp Diffené (1833-1903), an den bei der Einfahrt vom Altrhein zum Mannheimer Industriehafen die Klappbrücke erinnert, die den Luzenberg mit der Friesenheimer Insel verbindet. Diffené bekleidete zahlreiche Ehrenämter. Er war fast ein Vierteljahrhundert lang Präsident der Handelskammer Mannheim, außerdem Präsident des Badischen Handelstages, Vizepräsident der Ersten Badischen Ständekammer. Der Großherzog ernannte den Schirmherrn zahlreicher patriotischer und gemeinnütziger Vereinigungen zum Geheimen Kommerzienrat, die Stadt Mannheim zum Ehrenbürger.
Der erste Sozialdemokrat
Philipp Diffené kandidierte 1890 für eine zweite Wahlperiode in Berlin, scheiterte aber in der Stichwahl an August Dreesbach (1844-1906), der als erster Sozialdemokrat aus Baden Reichtagsabgeordneter wurde. Bei der Reichstagswahl 1893 unterlag Dreesbach dem NLP-Kandidaten Ernst Bassermann, schaffte aber 1898 und 1903 erneut den Einzug in den Reichstag, nun als Abgeordneter der SPD, für die Mannheim inzwischen zu einer Hochburg geworden war, die auch nach Weinheim ausstrahlte und für eine ständige Zunahme sozialdemokratischer Wählerstimmen sorgte. Allerdings gründete sich erst nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes 1890 hier ein sozialdemokratischer Wahlverein als lokale Parteiorganisation, deren Gründungs- und langjähriger Vorsitzender Philipp Schuhmann 1903 als erster Sozialdemokrat in den Bürgerausschuss einzog. Von Mannheim aus organisiert fand 1891 der dritte Landesparteitag der SPD in Weinheim statt.
Dem 10. Deutschen Reichstag gehörte zwischen 1893 und 1898 für den Wahlkreis Mannheim-Weinheim-Schwetzingen allerdings noch einmal ein Nationalliberaler an: Ernst Bassermann (1854-1917), der bis 1917 für verschiedene Wahlkreise im Reichstag saß, ab 1898 als Vorsitzender der nationalliberalen Reichstagsfraktion. 1905 wurde Bassermann Vorsitzender der Nationalliberalen Partei im Reich. Im Februar 1917 trat er vom Reichstagsmandat und von allen Parteiämtern zurück.
In der nationalliberalen Reichstagsfraktion vertrat Valentin Müller aus Heiligkreuz von 1903 bis 1907 den Wahlkreis Bretten-Sinsheim. Er war im Kaiserreich der einzige Reichstagsabgeordnete aus dem Amtsbezirk Weinheim.
Dominante SPD
Auch nach Dreesbachs Tod 1906 blieb das Mannheimer Reichstagsmandat bei den Sozialdemokraten, die sich von einer parlamentarisch unbedeutenden Splittergruppe (1871: 3,2 %) inzwischen zur stärksten Reichstagsfraktion entwickelt hatten. 1907 und 1912 errang der Mannheimer Rechtsanwalt Dr. Ludwig Frank (1874-1914) das Wahlkreismandat. Er gehörte dem gemäßigten Flügel der SPD an und war bereit zur Kooperation mit den Nationalliberalen, um seine Ziele zu erreichen: die Lage der Arbeiterklasse zu verbessern und das Dreiklassenwahlrecht in Preußen abzuschaffen. Gleichzeitig setzte sich Frank für die deutsch-französische Verständigung ein, aber nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs ging er als Kriegsfreiwilliger an die Front und fiel schon Anfang September 1914 in seinem ersten Gefecht in Lothringen. Ludwig Frank galt als eine der großen Zukunftshoffnungen der Sozialdemokratie. Theodor Heuss sagte später über ihn: „Die Sozialdemokratie verlor einen ihrer fähigsten Köpfe, die badische SPD das Haupt und die deutsche Volkszukunft verlor einen ihrer stärksten Führer“.
Franks Nachfolger im Reichstag wurde einer seiner engsten Vertrauten, der Mannheimer „Volksstimme“-Redakteur Oskar Geck (1867-1928). Er gehörte von 1914 bis 1918 dem Reichstag an, wurde 1919 in die Verfassunggebende Deutsche Nationalversammlung gewählt und gehörte ab 1920 dem Reichstag bis zu seinem Tod 1928 an. Geck starb am Pfingstmontag 1928, eine Woche nach seiner rneuten Wiederwahl, im Alter von 61 Jahren. In Weinheim erreichte die SPD 1928 einen Stimmenanteil von 25,4 Prozent (Reich 29,8 %).
(2021, © www.wnoz.de)