Als die Scheichs den Ölhahn zudrehten: Sonntags-Fahrverbote 1973/74
von Heinz Keller
Alle Beiträge in diesem Zeitungsarchiv sind erstmals in den Weinheimer Nachrichten erschienen. Die Veröffentlichung auf der Internetseite des Weinheimer Museums erfolgt mit der Zustimmung der DiesbachMedien GmbH.
Am Kreuz Weinheim der neuen Bergstraßen-Autobahn, wo an Reisetagen heute schon mal 90.000 Fahrzeuge vorüber rauschen, waren vor 50 Jahren nur Stimmen zu hören: von spielenden, rollernden und radelnden Kindern und von gut gelaunten Erwachsenen, die eine der normalerweise am stärksten befahrenen deutschen Verkehrsadern für sich erobert hatten und fröhlich plaudernd über den Asphalt spazierten. Die arabischen Ölscheichs, die mit der Drosselung ihrer Erdölförderung im Westen die erste Ölpreiskrise ausgelöst hatten, und das Sonntagsfahrverbot, mit dem die Bundesregierung darauf reagiert hatte, machten den Bummel auf der Autobahn möglich.
„Verkehrsstufe Null“ titelten die „Weinheimer Nachrichten“ und fügten an: „Das Fahrverbot fegte die Straßen leer“. Es galt damals außer Polizei, Ärzten und Rettungsdiensten für alle Fahrzeugbesitzer und es wurde, wie die die gleichzeitig mit dem Energiesicherungsgesetz verordneten Geschwindigkeits-begrenzungen von 100 Stundenkilometern auf Autobahnen und 8o km/h auf Landstraßen, streng befolgt. Als „über Erwarten diszipliniert“ wurden die Autofahrer von der Polizeidirektion Heidelberg gelobt, deren Beamte im Laufe des ersten von insgesamt vier autofreien Sonntagen im Rhein-Neckar-Kreis rund 16.000 Kontrollen durchführten und nur zehn Sünder ohne Ausnahmegenehmigung feststellten.
Auch die Weinheimer Ordnungshüter kehrten mit leeren Protokollbüchern ins Revier zurück: kein Verkehr, keine Unfälle. Die Radfahrer beherrschten das Weinheimer Straßenbild, vereinzelt auftauchende Autos wurden mit der heimlichen Frage verfolgt, wer sie wohl steuere. Einige Bauern spannten ihre Pferde vor die Kutschen und machten mit Freunden bei ausgeschalteten Ampeln eine Stadtrundfahrt über leere Straßen. Lauffreudige Menschen verlegten ihren Sonntagslauf vom Exotenwald auf die Autobahn. Allein das im Herbst 1973 eröffnete Miramar widerstand den Folgen der ersten Ölpreiskrise: das Freizeitbad verzeichnete trotz seiner Abgelegenheit Rekordbesuch per Bus, Rad oder zu Fuß. Darauf konnten die Gaststätten am Rand der Stadt nicht hoffen und deshalb blieben zahlreiche traditionelle Sonntags-Ausflugziele geschlossen. Abgasfreie Luft konnten Spaziergänger auch in der Stadt atmen.
Nach Schätzungen des Automobilclubs von Deutschland (AvD) wurden am ersten autofreien Sonntag rund 60 Millionen Liter Kraftstoff eingespart. Eine steigende Zahl von Ausnahme-genehmigungen sorgte an den nächsten drei Sonntagen, an denen das Fahrverbot galt, dass die Idylle des ersten Sonntags zunehmend verloren ging. Es fuhren wieder mehr Autos, gelegentlich gab es sogar Staus. Hauptziel des Fahrverbots, erklärte der damalige Finanzminister Helmut Schmidt, sei es eh nicht gewesen, Öl zu sparen, sondern den Menschen den Ernst der Situation klar zu machen. Bei vielen Menschen hat die Ölkrise von 1973/74 tatsächlich ein Nachdenken über Energiesparen, Nachhaltigkeit und eine mögliche Abkehr vom Öl ausgelöst. Gesetzlich angeordnete autofreie Sonntage gab es nach 1973 nicht mehr, dafür aber andere Energiesparmaßnahmen und Aktionstage wie die „Autofreie Bergstraße“ auf der Alten Bergstraße zwischen Heppenheim und Darmstadt-Eberstadt.
Zur Vollständigkeit der Rückschau auf das Jahresende 1973 und den Jahresbeginn 1974 gehört ein Blick auf die Benzinpreise und ihre Veränderung in dieser Zeit, die heutigen Autofahrern keinen nachträglichen Schrecken einjagen. 1955 kostete der Liter Normalbenzin, auf Euro umgerechnet, 28,6 Cent, Dieselkraftstoff 17,2 Cent. 1973/74 stieg der Preis für Normalbenzin auf 35,3 Cent, für Super auf 38,9 Cent und für Diesel auf 35,8 Cent.
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