Im Apostel-, Nibelungen, im Maler- oder Musiker-Viertel?

Geschichte der Weinheimer Straßennamen

Das Herz der Stadt schlägt bis heute im Einmündungsbereich der Bahnhofstraße in die Hauptstraße. Den Platz schmückte von 1903 bis 1933 der Rodensteinerbrunnen
Das Herz der Stadt schlägt bis heute an Einmündung der Bahnhofstraße in die Hauptstraße. Den Platz schmückte von 1903 bis 1933 der Rodensteinerbrunnen, der heute auf dem einstigen Gänsemarkt an der unteren Hauptstraße steht. Bild: Stadtarchiv Weinheim.

von Heinz Keller

Als der Blumenpeter im Kreispflegeheim lebte, zwischen 1919 und 1929, hielten die OEG-Züge noch an der Haltestelle Brücke und vor der Gaststätte „Zur Stadt Weinheim”. Von der Viernheimer Straße her, an der das Kreispflegeheim lag, hatte das Mannheimer Original nicht weit zur OEG-Brücke. Wenn er die Pflegeanstalt verlassen konnte – so erzählt eine der vielen, mal mehr, mal weniger zutreffenden Geschichten um den kauzigen Blumenverkäufer – beobachtete der Peter auf der Brücke interessiert die ein- und aussteigenden Fahrgäste. Den wenigsten fiel der kleinwüchsige Mann auf. Doch eines Tages ging ein Fremder auf Peter Schäfer zu und fragte ihn: „Können Sie mir sagen, wo hier die Makkaroni-Fabrik ist?” Der Peter verneinte: „Die weeß isch net!” Der Fremde bedankte sich und ging weiter. Doch dann rannte der Blumenpeter hinter ihm her: „Gell, Sie meene die Nudel?”. „Ja, die meine ich“, antwortete der Fremde. Er durfte nur kurz auf die ersehnte Wegweisung hoffen, denn der schlitzohrige Peter beschloss den Dialog mit den Worten: „Ja, des weeß isch aan et!”.

Der Blumenpeter
Der Blumenpeter: „Kaafe Se mer e Blummstraißel ab?“

Ähnliches könnte auch heute Weinheim-Besuchern widerfahren, denn wer wollte, Hand aufs Herz, von sich sagen, dass er auf Anhieb erklären könne, wo diese oder jene Straße zu finden ist. Schließlich gibt es in Weinheim 559 Straßen, Wege und Plätze, verteilt auf die so genannte Kernstadt und die Stadtbezirke zwischen Sulzbach und Oberflockenbach.

Peterskirche und die Eiserne Brücke über die Weschnitz
Im Berg-Bezirk lagen die alte Peterskirche und die Eiserne Brücke über die Weschnitz, die 1874 eine Holzbrücke ersetzte. Sie konnte nach 140 Jahren dem mit der Industrialisierung gewachsenen Verkehr nicht mehr gerecht werden. Bild: Stadtarchiv Weinheim.

Acht Bezirke in Weinheim

Als der Blumenpeter 1940 starb, hatte Weinheim 18.000 Einwohner und 182 Straßen, die erst seit 1987 Namen trugen. Bis dahin war das Stadtgebiet in acht Bezirke eingeteilt und man wohnte im Müllheimer Bezirk, im Gerberbach-, Rathaus-, Amtshaus-, Schulhaus-, Berg-, Weschnitztal- oder Westend-Bezirk. Es gab aber auch damals schon Wegbezeichnungen, die oft auch der Volksmund formuliert hatte: Hintergasse (später Nördliche Hauptstraße), Deutschherrengasse (Amtsgasse), Steinweg (Hauptstraße), Kühgasse (Lindenstraße), Wiesgasse (Luisenstraße), Hohlgasse (Friedrichstraße), Schafhofweg (Bahnhofstraße) oder Rumpelgasse (Tannenstraße).

Eine große Tradition

1887 führte der Gemeinderat eine „Neuaufstellung von Straßennamen“ durch. Dabei erhielten 64 Straßen und Gassen einen neuen oder einen geänderten Namen. Umgetauft wurden damals die Blässengasse, abgeleitet vom Blässenhof, in Münzgasse, das Mühlbergel in Mühlgässchen, die Säugasse in Windeeckstraße (heute Spitalgässchen), der Schornswinkel in Bleichgässchen, die Lochgasse in Wolfsgasse, die „verbrochene Gasse“ beim alten Pflaumenhof in Pflaumengässchen und die nördliche Fortsetzung der Untergasse in Hirschkopfstraße.

Apostel und Fürstinnen

Nach den im Stadtarchiv verwahrten Ratsakten beschäftigte sich der Gemeinderat 1892 zweimal mit Straßenbenennungen. Mit Johannis-, Paul-, Peter- und Annastraße hat Weinheim seitdem ein Apostelviertel, das gelegentlich auch Johannisfeld genannt wird. 1893 umfasste das Weinheimer Straßenverzeichnis bereits 87 Namen. Kurzzeitig gab’s darunter eine Türkenstraße. Unbekannt sind die Hintergründe, warum die Ratsherren am 28. Januar 1897 im Großen Sand eine Türkenstraße tauften und warum sie bereits am 3. Februar aus der Türkenstraße die heutige Elisabethstraße machten.

Das Großherzoginnen-Viertel wurde 1902 vervollständigt. Zur Erinnerung an die populäre badische Großherzogin und Kaisertochter Luise, die 1887 bei der ersten großen Straßenbenennung als einzige Frau berücksichtigt worden war, kamen nun Straßen für die badischen Großherzoginnen Hilda und Sophie.

Wo war die Parallelstraße?

Besonders aktiv war der Gemeinderat 1912. Er ordnete erstmals, wenn auch nicht endgültig, die Wegeverhältnisse am Schlossberg. 1933 fanden die letzten Korrekturen zu den heutigen Straßennamen Steighausstraße, Am Schlossberg, Wachenbergstraße, Alter und Neuer Burgweg statt.

Die „Parallelstraße“ (zur Heidelberger Straße, heute der südliche Teil der Bergstraße) erhielt 1912 den Namen Nussbaumallee und wer wissen wollte, wo diese Allee liegt, erfuhr das schon vier Monate später, als aus der Nussbaumallee die Rosenbrunnenstraße wurde.

Das Nibelungen-Viertel

Mit der Umbenennung der alten Klingelgasse in Nibelungenstraße wurde 1912 der Anfang zum Nibelungen-Viertel gemacht, denn gleichzeitig erhielten die Straßen im Neubaugebiet am Hirschkopf die Namen Brunhildstraße und Siegfriedstraße. Gunterstraße, Kriemhildstraße und Drachenweg folgten. Mit der Erweiterung des Baugebiets nach Nordosten kamen 1949 Gernotstraße, Giselherstraße, Volkerstraße und Hagenweg dazu.

Vor und nach dem Ersten Weltkrieg wurden die Marschälle von Moltke, von Blücher, York von Wartenburg und Friedrich Wilhelm von Steuben, die Dichter Hebel und Körner, die Freiheitskämpfer Fichte, Jahn und Dürre in Weinheim heimisch.

Viertel der Ehrenbürger

Große Weinheimer Kommunalpolitiker, die neuen Ehrenbürger der Stadt und bedeutende Weinheimer wie die Brüder Bender und Lambert von Babo wurden in der zweiten Hälfte der 1920-er Jahre mit Straßennamen geehrt: Bürgermeister-Ehret-Straße und Albert-Ludwig-Grimm-Straße führen seitdem ins Ehrenbürger-Viertel mit der Erinnerung an Carl Johann und Hermann Ernst Freudenberg, nach dem Zweiten Weltkrieg auch an Richard, Hans und Dieter Freudenberg, an Georg Friedrich Vogler, Adam Karrillon, Erhard Bissinger, Aute Bode, Arthur Wienkoop und seit 1972 auch an Wilhelm Brück. Unter Weinheims Ehrenbürgern blieben Emil Hartmann, Theo Gießelmann, Uwe Kleefoot, Wolfgang Daffinger, Josefine und Hans-Werner Hector bei Straßentaufen bisher unberücksichtigt. Sepp Herberger wohnte an der nach ihm benannten Straße in Hohensachsen. An Georg Peter Nickel, den Züchter der „Nickels-Quetsch“ oder Lützelsachsener Frühzwetschge, erinnert in Lützelsachsen lediglich der Ehrenbürgerbrief.

Das „Scharfe Eck“ an der einst von einem scharfen Eckzaun markierten Einmündung der Werderstraße in die Bergstraße.
Das „Scharfe Eck” an der einst von einem scharfen Eckzaun markierten Einmündung der Werderstraße in die Bergstraße war eine gastronomische Institution. Das Fotoidyll mit spazierenden Paaren vor der Wende zum 20. Jahrhundert. Bild: Stadtarchiv Weinheim.

Endlich Bergstraße

Seit 1932 heißt die Nord-Süd-Achse in Weinheim einheitlich Bergstraße. Sie entstand damals aus der Sulzbacher Landstraße, die von der Gemarkungsgrenze mit Sulzbach bis zur Steinernen Brücke bei der heutigen Stadthalle führte, aus der Bergstraße zwischen Steinerner Brücke und dem heutigen Postknoten und aus der Heidelberger Straße zwischen Postknoten und Gemarkungsgrenze Lützelsachsen.

NS-Taufaktionen

Besonders tauffreudig zeigten sich die Nationalsozialisten nach der „Machtergreifung“. Schon am 21. März 1933 wurden aus dem Bürgerpark der Hindenburgpark und aus der Nördlichen Hauptstraße die Adolf-Hitler-Straße. Den Namen des obersten Weinheimer Nationalsozialisten und neuen Ehrenbürgers Walter Köhler erhielt 1934 die Gartenstraße (heute Schlossgartenstraße). Gleichzeitig wurde aus der Bahnhofsanlage der Axel-Schaffeld-Platz und im Neubaugebiet am Wachenberg gab es fortan eine Horst-Wessel-Straße (heute Kantstraße) und eine Schlageterstraße (heute Hegelstraße). Zur Unterstützung der „Propagandaschlacht“ um die Rückkehr des Saargebiets und des deutschsprachigen Grenzgebiets in den belgischen Ardennen erhielt Weinheim eine Saarbrückener Straße und eine Eupen-Malmedy-Straße (heute Karl-Benz-Straße).

Albrecht Graf von Roon verstärkte 1935 die Weinheimer Marschallsriege.

1937 erhielten die neuen Straßen in der nach dem antisemitischen Schriftsteller und ersten Hauptschriftleiter des „Völkischen Beobachter“, Dietrich Eckart, benannten Siedlung im Allmendgewann die Namen „der im Gau Baden gefallenen Kämpfer der Bewegung“: Dr. Karl Winter (heute Ahornstraße), Fritz Kröber (Apfelstraße), Paul Billet (Birnenstraße), Karl Guwang (Fliederstraße), Jakob Ihrig (Kirschenstraße), Gustav Kammerer (Blumenstraße) und von Wilhelm Gustloff (Stahlbadstraße), des 1936 in Davos ermordeten Landesgruppenleiters der Auslandsorganisation der NSDAP in der Schweiz.

1945 bekamen diese Straßen ihre heutigen Namen.

Neue Wohngebiete

Das wachsende Weinheim stellte den Gemeinderat in der Nachkriegszeit vor viele Namensentscheidungen. 1946 waren Am Schwimmbad und Am Bannholz die ersten Straßennamen in der Fliegergeschädigten-Siedlung beim Turnerbad.

Die westliche Stadterweiterung brachte 1949 die Heine- und Uhlandstraße, später die Händelstraße, als sich der bisherige Name Stadtrandstraße nicht mehr begründen ließ. 1951 folgten die Gleiwitzer Straße als Beginn des Erinnerns an frühere deutsche Städte im Osten, die den Seitenstraßen von Breslauer und Königsberger Straße ihre Namen gaben, 1955 und 1957 rund um die Schweitzer-Schule die Straßen mit den Baumnamen.

1959 verabschiedete sich Weinheim von zwei historischen Straßennamen: das Diebsloch, einst kleiner Stadtausgang zur Windeck in der Stadtmauer, gehörte nun zur Münzgasse, Am Judenbuckel wurde in Merianstraße umbenannt.

In den 1960-er Jahren entstand im Gewann Hört das Musiker-Viertel mit allen großen Musiker-Namen, aber auch dem Högeweg in Erinnerung an das verschwundene Dorf Hege.

1964 erhielten Friedrich Ebert, Konrad Adenauer, Theodor Heuss und Kurt Schumacher auf der Kuhweid „ihre“ Straßen, Adolf Kolping und Friedrich von Bodelschwingh erweitertender die stetig wachsende Liste der Straßennamen. 1970 wurden ganz im Westen der Stadt die großen badischen Erfinder und Weinheims Nachbarstädte gewürdigt. Am Wüstberg gibt es seitdem eine Huegel- und eine Zinkgräfstraße, nach dem Oberbürgermeister und dem Heimatforscher.

Nach der Gemeindereform

Nach der Gemeindereform von 1972/73 wurden im größer gewordenen Weinheim zahlreiche Straßen umbenannt. Der Gemeinderat nahm der Kernstadt und den Stadtbezirken alte Straßennamen, wenn es im neuen Stadtgebiet anderswo bedeutendere Straßen mit demselben Namen gab, und stiftete neue Namen. Die Umbenennungen gingen in Absprache mit den Ortschaftsräten bei leichtem Murren, letztlich aber ohne große Widersprüche vonstatten. Weinheim verlor seine Jahnstraße an Hohensachsen, die Kernstadt und Rippenweier ihre Schillerstraße an Sulzbach, eine Weinheimer Straße gibt es seitdem nur noch in Lützelsachsen, eine Friedrichstraße nur noch in Weinheim.

Widerstandskämpfer geehrt

Zwischen 1974 und 1984 wurde in der Vorderen Mult der seit langem erhobenen Forderung nach Berücksichtigung von Widerstandskämpfern in der NS-Zeit als Namensgeber neuer Straßen entsprochen. In Sulzbach-West entstand 1973 das Maler-Viertel, in Lützelsachsen wurden alte Gewannnamen in neuen Straßennamen erhalten und die enge Verbindung zum Weinbau mit den Namen der wichtigsten Rebsorten unterstrichen, in Wünschmichelbach gaben unsere heimischen Singvögel ihre Namen an Straßen im Neubaugebiet Reinhardswiese. Oberflockenbach ehrte seinen langjährigen Bürgermeister Adam Cestaro mit einer Straße, in Weinheim erinnert seit 1983 der Sigmund-Hirsch-Platz an den Gründer der Lederwerke Hirsch, mit dem Fabrikweg aber endete 1991 die Erinnerung an die Alte Lackierfabrik von Freudenberg. Die neue Wohnanlage liegt heute an der Kopernikusstraße.

Partnerschafts-Straßen

Die Städtepartnerschaften von Weinheim, Lützelsachsen und Hohensachsen brachten die Cavaillonstraße, die Imolastraße, die Varces-Anlage und den Anet-Platz. Etwas an den Stadtrand gerutscht ist die Eisleber Straße auf der Waid.

Die letzte Straßenbenennung fand 2017 für das neue Baugebiet Bergstraße/Langmaasweg statt und schuf die Straße Untere Grüb in Erinnerung an den alten Gewannnamen und Sulzbacher Straße, die nun auch Weinheims nördlichen Stadtbezirk ins Straßenverzeichnis bringt. Über die Straßennamen für die Allmendäcker und das ehemalige Kreispflegeheim-Areal wird noch nachgedacht.

(2000/2020)