An der Wüstberg-Terrasse schieden sich die Geister

Wie aus dem Prankel die Südstadt wurde

Bild der Stahlträger der Brücke.
Bild: Stadtarchiv Weinheim.

von Heinz Keller

Der Prankel im Jahre 1930: Am unteren Bildrand der Güterbahnhof, darüber das Gewann Prankel mit der noch spärlich bebauten Rosenbrunnenstraße und dem Jahnplatz, links davon das noch unbebaute Gelände im Sand mit der Lack-Lederfabrik Freudenberg und links davon die Tafeläcker bis zur Moltkestraße, wo einst Tausende von Tafeln, mit Leder bespannt, zum Sonnen-Trocknen standen. Gut erkennbar ist auch die Führung der Freudenbergstraße und darüber Rosenanlage und Schlossgarten mit Schloss.

Weinheim. Im 20. Jahrhundert hat sich Weinheims Einwohnerzahl stark verändert. Zur Jahrhundertwende 1900 hatte die beschauliche Bezirksamtsstadt 11.167 Einwohner, 1971 lebten in der heutigen Kernstadt 29.571 Menschen und mit der Gemeindereform und dem Anschluss der Nachbargemeinden Sulzbach, Lützelsachsen, Hohensachsen, Ritschweier, Rippenweier und Oberflockenbach erhöhte sich die Einwohnerzahl auf 41.257. Heute hat die Große Kreisstadt 45.891 Einwohner (2019). Die Entwicklung zu einem in der Region besonders beliebten Wohnplatz wird deutlich in der nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs aus dem Allmendboden geschossenen Weststadt, wo inzwischen knapp 17.000 Menschen leben.

Noch mehr Gründe, sich um einen Bauplatz oder eine Eigentumswohnung zu bemühen, liefern allerdings Weinheims Hanglagen. Hier entstanden, vor allem in der jüngeren Vergangenheit, reizvolle Villenviertel in architektonischer Vielfalt, die man freilich auch kritisch sehen darf. Vor ihrer Realisierung stand oft ein mehr oder minder heftiger Meinungsstreit, wenn die Grundstücksbesitzer andere Vorstellungen von der Verwertung ihres Geländes hatten als die planende Stadt.

Alles begann „im Prankel“

Als Erweiterungsgebiet für die stetig wachsende Stadt ist der Südrand des Stadtgebiets seit Beginn des 20. Jahrhunderts ein kommunalpolitisches Thema. 1907 wurde der Gedanke, das Gebiet zwischen Güterbahnhof (heute Fachmärkte-Zentrum) und Lützelsachsener Straße zum Wohnviertel zu machen, erstmals im Gemeinderat beraten. Das Plangebiet wurde nach dem Gewann östlich der heutigen Rosenbrunnenstraße „Prankel“ genannt. 1910 legte der Leiter des Vermessungsamtes, Stadtgeometer Karl Karcher, den Entwurf für einen Bebauungsplan vor, der heiße Diskussionen auslöste. Das Bezirksamt wies 1914 alle Einsprüche dagegen zurück und es hätte losgehen können mit der südlichen Stadterweiterung, doch der Ausbruch des Ersten Weltkriegs stellte alle Wohnbaupläne bis in die späten 1920er Jahre zurück.

Rund um „Gartenlaube” und Jahnplatz, zwei seit langem verschwundene damalige Fixpunkte, entstand dann „der Prankel” mit der Rosenanlage und den Straßen, die die Namen von Weinheimer Ehrenbürgern tragen. An ihnen entwickelte sich ein bevorzugtes Wohngebiet, das auch die Amerikaner 1945 zu schätzen wussten, denn hier machten sie sich, neben Wachenberg und Hirschkopf, nach ihrem Einmarsch breit. Die letzten beschlagnahmten Häuser wurden erst 1955 an ihre Besitzer zurückgegeben.

Das Musikerviertel

Im städtischen Jubiläumsjahr 1955, als Weinheim die 1200. Wiederkehr seiner ersten urkundlichen Erwähnung im Lorscher Codex feierte, beschäftigte sich der Gemeinderat wieder mit dem Thema „Südliche Stadterweiterung”. Mit dem „Bebauungs- und Aufbauplan Südstadt” schuf er 1958 die Voraussetzungen für den Bau von 180 privat finanzierten Wohnungen im Bereich zwischen Prankelstraße und der Gemarkungsgrenze mit Lützelsachsen bei der heutigen Beethovenstraße, zwischen Rosenbrunnen und Lützelsachsener Straße. Die neuen Straßen erhielten die Namen berühmter Musiker und machten das neue Wohngebiet zum Musikerviertel. Erhalten blieben allerdings auch die alten Gewannnamen in Hörtweg und Hausackerweg und die Erinnerung an das einst zwischen Weinheim und Lützelsachsen gelegene Dorf Hege im Högeweg.

Der Michelsgrund …

Östlich der Vorkriegsbebauung an der Lützelsachsener Straße war inzwischen die Weinbergstraße entstanden und westseitig bebaut worden. Die Grundstücksbesitzer in den Gewannen Michelsgrund und Leimengrüb erwarteten nun, dass auch östlich der Weinbergstraße, am Hang zum Judenbuckel, Häuser entstehen durften. Im Frühjahr 1967 entsprach der Gemeinderat diesem Wunsch mit seinem Ja zum Entwurf für ein „Villenviertel am Rand des Naturschutzgebiets” (WN-Titel), das auf dem 2,5 Hektar großen Südwest-Hang mit 38 Wohneinheiten für 140 Einwohner entstehen sollte. Grünes Licht gab es dafür allerdings erst, als die Obere Naturschutzbehörde die Landschaftsschutzgrenze östlich des Michelsgrundes und nördlich des Wüstenbergweges veränderte. Sie hatte Grundstücke zerschnitten und damit uninteressant gemacht.

Das sollte der Bebauungsplan für den Wüstberg und den Oberen Michelsgrund heilen, der zugleich der langen Geschichte der Stadterweiterung nach Süden einen krönenden Abschluss mit der Erschließung und Bebauung der wohl schönsten Wohnlage Weinheims verschaffen sollte. Doch der Bebauungsplan-Entwurf „Wüstberg/Oberer Michelsgrund”, im Juli 1970 im Technischen Ausschuss beraten und im September 1970 vom Gemeinderat gebilligt, löste nicht nur Freude bei den Grundbesitzern aus, die lange darauf gewartet hatten, sondern begründete auch den härtesten Meinungsstreit, der sich jemals an einer Bebauungsplanung in Weinheim entzündete.

… und der Wüstberg

Auf dem 3,7 Hektar großen Weinberg- und Gartengelände am Hang des Judenbuckel plante ein Heidelberger Büro zwölf größere Plätze für freistehende Einfamilienhäuser, 21 Einfamilienhäuser in Kettenbauweise und sieben Terrassenhausgruppen für insgesamt 336 Einwohner, erschlossen über den alten Wüstenbergweg, der fortan Huegelstraße – nach dem früheren Oberbürgermeister Josef Huegel – heißen sollte, und über eine neue Hangstraße, die den Namen von Heimatforscher Karl Zinkgräf erhalten würde. Die Wohnterrasse spaltete von Anfang an sowohl die Grundstücksbesitzer als auch den Gemeinderat. Die Behandlung der Bedenken, die gegen die Planung vorgebracht wurden, lösten im Bürgersaal heftige Debatten und knappe Entscheidungen aus und ließen früh erkennen, dass am Ende wohl ein Gericht über die Gültigkeit des Bebauungsplans urteilen musste.

Luxus statt Idylle?

Am 21. April 1971 entsprach der Gemeinderat einigen Korrekturwünschen der Grundstücksbesitzer, doch schon während der Offenlage des geänderten Plans kam es zu neuen Einsprüchen. Der Ton in den Vorwürfen an die Stadtplanung und in den Reaktionen aus dem Rathaus wurde schärfer. Der Meinungsstreit eroberte wortreich die Leserbriefspalten der „Weinheimer Nachrichten“ und verband den Unwillen über den Ablauf der Schlossgarten-Bebauung mit Befürchtungen, auch am Wüstberg könnte ein Teil der naturnahen Idylle für Luxuswohnungen geopfert werden. Vor allem nach dem heftig umstrittenen Ja zur Wüstberg-Bebauung, das am 30. September 1971 SPD-Fraktion und Oberbürgermeister mit 9:8 Stimmen herbeiführten, schlugen die Wellen hoch.

Der Weg zum Gericht

Nach einer neuerlichen Kampfabstimmung am 19. April 1972 wurde aus dem Meinungsstreit zweier gleich starker Lager im Gemeinderat ein Rechtsstreit. Am 12. Mai 1972 beantragten fünf Wüstberg-Nachbarn beim Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg ein Normenkontrollverfahren, hatten damit am 17. Juni 1972 den ersten Erfolg, als eine einstweilige Anordnung die eben begonnenen Straßenbauarbeiten stoppte, und erreichten ihr Ziel am 10. Juli 1972, als der 2. Senat des VGH den Bebauungsplan Wüstberg/Oberer Michelsgrund für ungültig erklärte. Die Mannheimer Richter begründeten ihre Entscheidung mit dem Fehlen eines rechtskräftigen Flächennutzungsplans für die Stadt Weinheim, aus dem nach dem Baugesetz Bebauungspläne für Teilbereiche abzuleiten sind. Den seit 1966 diskutierten, seit 20. Mai 1970 gültigen Stadtentwicklungsplan, der Wüstberg und Oberen Michelsgrund als Baugebiet auswies, erkannte der VGH nicht als vollwertigen Ersatz an.

Die Stadtverwaltung antwortete mit dem Hinweis auf langwierige überörtliche Straßenplanungen und auf die anstehende Gemeindereform mit der Ungewissheit über die künftigen Stadtgrenzen, dass die rechtskräftige Verabschiedung eines Flächennutzungsplans bislang nicht möglich war. Dagegen sei die Stadt aus zwingenden Gründen genötigt gewesen, eine Wohnbebauung am Wüstberg und am Oberen Michelsgrund zu ermöglichen.

Die zweite Kraftprobe …

Der Gemeinderat ließ es auf eine neuerliche Kraftprobe mit dem VGH ankommen und beschloss den Bebauungsplan erneut. Erwartungsgemäß widersprachen die Gegner auch diesem Plan. Ihre Bedenken wies der Gemeinderat am 20. September 1972 mit diesmal deutlicherer 17:8-Stimmen-Mehrheit zurück. Allein die CDU blieb auf der Seite der Beschwerdeführer.

… und das Urteil: pro Stadt

Der Rechtsstreit ging in die zweite Runde. Am 27. November 1972 kam der 2. Senat des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg zu einer mündlichen Verhandlung und einer Ortsbesichtigung nach Weinheim und fand offensichtlich Grüne, über seinen Schatten zu springen, denn am 30. November korrigierte er sein erstes Urteil: „Dass die Stadt Weinheim keinen gültigen Flächennutzungsplan besitzt, berührt die Gültigkeit des Bebauungsplans Wüstberg/Oberer Michelsgrund nicht“, da die Stadt inzwischen zwingende Gründe für die Planaufstellung vor der Verabschiedung des Flächennutzungsplans genannt habe. Das war ein Seitenhieb auf die Stadtverwaltung, auf gut Woinemerisch: „Des hättscht a glei sage könne”. Auch die Kläger mussten sich sagen lassen: „Das wesentliche Interesse der Antragsteller besteht darin, nach Möglichkeit nichts von den Vorteilen preiszugeben, die den Nutzungswert ihrer Grundstücke bestimmen und sich aus der bisherigen Wohnlage und dem Baugebietscharakter ergeben“.

Aufatmen im Umland

Die zweite VGH-Entscheidung wurde nicht nur im Weinheimer Rathaus, sondern an der gesamten Bergstraße aufatmend zur Kenntnis genommen, weil von allen Städten und Gemeinden nur Lützelsachsen damals über einen rechtskräftigen Flächennutzungsplan verfügte.

Nachbarn vom „Carlshof”

Ihre letzte Abrundung erfuhr die südliche Stadterweiterung mit der Wohnanlage, die ab 2005 auf dem 16.000 qm großen Freudenberg-Weinberg im Hausacker entstand. Sie liegt westlich der von Firmengründer Carl Johann Freudenberg 1864/65 errichteten, 1904 von seinem ältesten Sohn Carl Friedrich umgebauten und 1962 von dessen Enkel Dr. Helmut Fabricius grundlegend umgestalteten Villa, die in einigen Veröffentlichungen „Carlshof“ genannt wird. Mit der Bebauung des von Lützelsachsener Straße und Mozartstraße, Prankelstraße und Hausackerweg begrenzten Geländes verschwand auch das idyllische Gärtnerhaus an der Südostecke, das eng mit Annie und Walter Freudenberg verbunden war. (2020)