Der Tag, an dem Weinheim in den Besitz der Wachenburg kam

Am 20. Dezember 1939 mussten die Studenten ihre Burg an die Stadt übergeben.

von Heinz Keller

Heute vor 75 Jahren, am 20. Dezember 1939, fand im fahnengeschmückten großen Saal des im Vorjahr erworbenen und zum Rathaus umgestalteten Berckheim-Schlosses die notarielle Übergabe der Wachenburg in das Eigentum der Stadt Weinheim statt. Grundlage des Besitzwechsels war der Vertrag vom 20. Mai 1912 zwischen dem Weinheimer Alte-Herren-Verband (WAHV) und der Stadt Weinheim über Instandhaltung und Bewirtschaftung der noch im Bau befindlichen WSC-Wachenburg. Danach und nach der Satzung des WAHV sollte die Stadt Weinheim das Wachenburg-Erbe antreten, wenn sich der Verband jemals auflösen sollte. Wirklich ernsthaft rechnete damals niemand damit, dass dieser Tag kommen könnte, doch 27 Jahre nach dem Vertragsabschluss war er dann doch da: die Zwangsauflösung des Weinheimer Verbandes Alter Corpsstudenten (WVAC), wie sich der WAHV seit 1928 nannte, stellte den Ernstfall her.

Bereits am 20. Oktober 1935 hatte sich der Weinheimer Senioren Convent (WSC), die Dachorganisation der 81 Weinheimer Corps an Technischen Hochschulen und Bergakademien, selbst aufgelöst – nicht freiwillig, sondern unter starkem äußeren politischen Druck, denn die nationalsozialistischen Gleichschaltungs-gesetze hatten auch die Hochschulpolitik nicht verschont. Da der NS-Studentenbund das alleinige Erziehungsrecht aller deutschen Studenten für sich beanspruchte, war ein verbindungsstudentisches Leben wie bisher unmöglich geworden.

Deshalb war nach zwei außerordentlichen Tagungen der Beschluss gefasst worden: „Der WSC löst sich auf und stellt seine Corps dem Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund (NSDStB) als Kameradschaften zur Verfügung“. Da nach der Selbstauflösung des WSC an einen Fortbestand des WVAC nicht zu denken war, stellte der WSC die Wachenburg „als Ehrenmal der gefallenen Kameraden und als lebendige Stätte studentischen Mannestums der NSDAP, insbesondere als Stätte gemeinsamer Arbeit für den NSDStB und den NS-Dozentenbund, zur Verfügung“. Die Burg blieb aber im Besitz des WVAC.

Doch auch der WVAC hielt dem politischen Druck nicht stand. Er löste sich am 20. Oktober 1935 ebenfalls auf und ging in Liquidation. Am 17. Mai 1936 wurde der Auflösungsbeschluss allerdings beim Amtsgericht Weinheim wegen formeller Verstöße gegen Satzung und Geschäftsordnung des WVAC angefochten. Der Gang der AH-Vereinigung des ehemaligen Corps Alemanniae Hannover vor Gericht wurde von den übrigen Alte-Herren-Verbänden der früheren WSC-Corps unterstützt. Das Amtsgericht Weinheim lehnte jedoch die Aufhebung des Auflösungsbeschlusses ab, da die Voraussetzungen dafür nicht gegeben seien. Als Berufungsinstanz erklärte dagegen am 12. Mai 1937 die 3. Zivilkammer des Landgerichts Mannheim den Auflösungsbeschluss von 1935 für nichtig. Damit bestand der WVAC als eingetragener Verein wieder zu Recht.

Als die „Führer“ – Vorsitzende gab es im nationalsozialistischen Sprachgebrauch seit der Einführung des Führerprinzips nicht mehr – der waffenstudentischen AH-Verbände 1938 die Aufgabe ihrer Selbständigkeit und die Eingliederung der Verbände in den NS-Alte-Herren-Bund Deutscher Studenten bekannt gaben, wurde das in Weinheim als Liquidation des WVAC gewertet. Doch der WVAC berief sich weiter auf das Mannheimer Urteil von 1937.

Allerdings nicht mehr lange, denn am 28. Mai 1938 wurde auch der Weinheimer Verband Alter Corpsstudenten zwangsweise aufgelöst. Durch geschicktes Taktieren konnte der Liquidator und letzte WVAC-Vorsitzende, Landesbaurat Carl Blumenthal (Alemanniae Hannover), die Konsequenz der Liquidation, die Übergabe der Wachenburg an die Stadt Weinheim, noch bis Ende 1939 hinauszögern. Im Vereinsregister wurde der WVAC am 6. Mai 1940 gelöscht.

Landesbaurat Blumenthal, der wegen der „Preisgabe der Burg“ aus den eigenen Reihen heftig angegriffen wurde, sah am 20. Dezember 1939 die „von Wehmut erfüllte“ Übergabe der Wachenburg und des übrigen Vermögens des WVAC an die Stadt Weinheim als Erfüllung des 1912 geschlossenen Vertrages an und wünschte sich von der Stadt „eine treue Wacht über unserer Burg“: „Das Herz der Angehörigen unseres Verbandes hängt an jedem Stein“.

Weniger bewegt bewertete Weinheims neuer Bürgermeister Dr. Reinhold Bezler den Tag, an dem auch der badische Ministerpräsident und Weinheimer Ratsherr Walter Köhler, Professor Arthur Wienkoop (Darmstadt), Erbauer der Burg und Weinheimer Ehrenbürger, der frühere Weinheimer Oberbürgermeister Joseph Huegel, selbst Weinheimer und Kösener Corpsstudent, und der Mannheimer Landrat Dr. Ludwig Vesenbeckh teilnahmen. „Sie alle, meine Herren vom WSC, trennen sich zweifellos schweren Herzens von dem, was Ihnen einst lieb und teuer war. Sie söhnen sich aber aus, weil Sie wissen, dass der Geist des WSC und der alten Studentenschaft kraftvoll weiter lebt im Nationalsozialistischen Studentenbund“. Dr. Bezler übernahm die Wachenburg in Stadtbesitz mit dem Versprechen, „das Bauwerk zu erhalten und als Mahn- und Denkmal würdig zu verwalten.“

Ministerpräsident Walter Köhler wurde deutlicher mit dem Hitler-Zitat: „Ich habe vieles nehmen müssen, was dem Volk lieb war“. Das sollte auch hier angenommen werden, denn „es geschah im Zuge einer größeren Idee“. Das Studententum könne „auch so an den großen Aufgaben mitarbeiten, die uns gestellt sind, für ein großes und starkes Deutschland“.

Nach 1939 wurde die Wachenburg touristisch genutzt für Veranstaltungen des nationalsozialistischen Freizeitgestalters „Kraft durch Freude“, außerdem für Parteiveranstaltungen der NSDAP, zeitweise auch von der Badischen Jägerschaft, im Krieg von Nachrichteneinheiten der Luftwaffe und nach dem Krieg von amerikanischen Besatzungstruppen.

Am 8. Oktober 1949 rekonstituierte sich der WVAC und erklärte, die Auflösungen von 1935 und 1938 seien nicht rechtens erfolgt. Am 8. August 1950 machte der Weinheimer Gemeinderat das nationalsozialistische Unrecht wieder gut, als er die Rückgabe der Wachenburg beschloss: „Die Stadt Weinheim sieht es als Selbstverständlichkeit an, da sie unter Umständen Eigentümerin wurde, die sie nicht als berechtigten Eigentumserwerb ansehen kann“.

Ein kritischer Oberbürgermeister Rolf Engelbrecht verhehlte in der Rückgabe-Stunde nicht, „dass er und der Gemeinderat es nicht für richtig halten würden, wenn die jetzt im Studium begriffene Generation und die kommenden Generationen von Studenten all das wiederaufnehmen würden, was seinerzeit für das deutsche studentische Korporationsleben an deutschen Universitäten und Hochschulen kennzeichnend war“. Nach Engelbrechts Meinung „sollte alles vermieden werden, was eine standes- und klassenmäßige Abtrennung des korporativen vom freien Studenten und darüber hinaus vom jungen Arbeiter, Angestellten und sonst in der Ausbildung begriffenen jungen Menschen herbeiführt“. Als Zeichen der Trennung wertete der Oberbürgermeister das Farbentragen und die Mensur.