Rückblick: Schon 1974 gab es eine Anfechtung der OB-Wahl

346 Tage lang war Gießelmann nur Amtsverweser

von Heinz Keller

Weinheim. Wahlanfechtung nach einer Oberbürgermeister-Wahl? Das gab’s doch schon einmal in Weinheim? Richtig, sie liegt allerdings schon 44 Jahre zurück. Am 12. Mai 1974 fand die fünfte Oberbürgermeister-Wahl nach dem 2. Weltkrieg statt. Oberbürgermeister Theo Gießelmann, 1966 nach einem harten Wahlkampf mit Wolfgang Daffinger erstmals zum Stadtoberhaupt gewählt, bewarb sich um eine zweite, nun zwölfjährige Amtszeit. Sein Gegenkandidat war der Weinheimer Oberstudienrat Günter Deckert (NPD). Bei einer Wahlbeteiligung von 51,41 Prozent entfielen auf Gießelmann 9.604 der 13.619 gültigen Stimmen (70,52 %), auf Deckert 3.377 (24,8O %). Auf 638 Stimmzetteln (4,7 %) wurden „sonstige Bewerber“ genannt, die gar nicht kandidierten. Fast alle Gemeinderäte waren darunter, Bürgermeister und Ortsvorsteher, Weinheimer Pfarrer und Verkehrsdirektor Werner Schilling, aber auch Willi Brandt, Franz Beckenbauer und Uwe Seeler. Auch Dr. Rüdiger Ackermann stand als Bewerber auf zahlreichen Stimmzetteln und erhielt 189 Stimmen (1,39 %).

Der in Mannheim als Stadtrechtsdirektor tätige, in Weinheim lebende Jurist erhob am 16. Mai 1974 Einspruch gegen die Wahl, bei der Stimmzettel mit dem 1963 vom Stuttgarter Innenministerium herausgebrachten Mustervordruck verwendet worden waren: „Ein Bewerber, dessen Namen der Wähler hinzufügt, ist durch Zuname, Vorname, Beruf, Wohnung sowie nötigenfalls durch weitere Angaben zweifelsfrei zu bezeichnen“. Dieses Verlangen habe dazu geführt, dass viele Wähler nicht in der Lage waren, einen zusätzlichen Bewerber zu wählen, weil ihnen beim Wahlakt die geforderten Angaben nicht bekannt waren, argumentierte Dr. Ackermann. Er kritisierte außerdem, dass bei der Briefwahl das Wahlgeheimnis nicht gewahrt worden sei, und fühlte sich schließlich von Gießelmann beleidigt, weil der ihn einen „Edelpendler“ genannt und sein Flugblatt als „Pamphlet“ bezeichnet habe.

Das Regierungspräsidium Karlsruhe wies den Einspruch vier Wochen später zurück. Dagegen klagte Dr. Ackermann beim Verwaltungsgericht Karlsruhe. Am 25. Oktober 1974 wies die 1. Kammer die Klage ab mit der Begründung, dass Gießelmann die Wahl nicht unzulässig beeinflusst habe, dass sich die Bezeichnungen „Edelpendler“ und „Pamphlet” und die Aufforderung, Ackermann möge seine Kräfte lieber zum Vorteil statt zum Nachteil Weinheims einsetzen, noch im Rahmen des bei Wahlkämpfen Üblichen hielten.

Damit gab sich Dr. Ackermann nicht zufrieden. Am 4. Dezember 1974 legte er Berufung gegen das Karlsruher Urteil beim Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg ein und verlangte, die Weinheimer Oberbürgermeister-Wahl für ungültig zu erklären. Das höchste Verwaltungsgericht des Landes wies am 10. März 1975 die Berufungsklage Dr. Ackermanns zurück, ließ keine Revision zu und machte die OB-Wahl damit gültig. Die Nichtzulassung der Revision hätte allerdings durch Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht angefochten werden können, doch davon machte Dr. Ackermann keinen Gebrauch.

So kam es, dass Oberbürgermeister Gießelmann, bis dahin Amtsverweser, sein neues, altes Amt erst 346 Tage nach der Wahl antreten konnte. Stadtrat Herbert Schneider, damals dienstältestes Mitglied des Gemeinderates, nahm am 24. März 1975 die Verpflichtung vor.

Die elfmonatige Zeitspanne zwischen Wahl 1974 und Amtseinführung 1975 ist hoffentlich kein schlechtes Vorzeichen für die in der vergangenen Woche von Fridi Miller angestoßene Wahlanfechtung der jüngsten OB-Wahl in Weinheim.