Weinheimer im Landtag
Seit 200 Jahren: Im Großherzogtum und in der Freien Republik
von Heinz Keller
Die im März 2021 anstehende Wahl zum Landtag von Baden-Württemberg gibt Anlass, einmal zurück zu schauen auf Weinheimer Politiker, die im 19. und 20. Jahrhundert die Landespolitik in Baden mitgestaltet haben, aber ganz unterschiedliche Lebensläufe hatten.
Albert Ludwig Grimm
Der erste war Albert Ludwig Grimm (1786-1872), Theologe, Pädagoge, Schriftsteller, Märchensammler, Bürgermeister und Landtagsabgeordneter. Grimm vertrat den Ämterwahlbezirk Ladenburg-Weinheim von 1825 bis 1838 in der Zweiten Kammer der Badischen Ständeversammlung, dem bis 1918 bestehenden Parlament des Großherzogtums Baden, als gewählter Abgeordneter. Die Zweite Kammer galt vor der Märzrevolution 1848 als das liberalste und einflussreichste Kammerparlament des Deutschen Bundes. Grimm war gemäßigter Oppositioneller oder auch konstitutionell gesinnter Liberaler, von 1828 bis 1838 Erster Sekretär der Zweiten Kammer und Redakteur des „Landtagsblattes“. Bekannt wurde Albert Ludwig Grimm durch seine Rede zum Badischen Judenedikt am 3. Juni 1831 mit dem Ziel, die vollständige rechtliche Gleichstellung der Juden in Baden herbeizuführen. Albert Ludwig Grimm war der einzige Abgeordnete, der die Landtagsinitiative des Heidelberger Abgeordneten und Bürgermeisters Jakob Wilhelm Speyerer unterstützte. Sie scheiterten am geschlossenen Widerstand der übrigen Abgeordneten. Seine weit vorausschauende Landtagsinitiative zum Bau einer von der Weinheimer Geschäftswelt heftig bekämpften Umgehungsstraße um den Stadtkern, die heutige Bergstraße, befreite zwar die Innenstadt vom Durchgangsverkehr, kostete Grimm aber das Amt des Oberbürgermeisters und das Landtagsmandat.
Als Wahlkreis-Abgeordnete folgten auf Grimm erst der Liberale Karl Theodor Welcker aus Neulußheim, später Mitglied im Verfassungsausschuss der Frankfurter Nationalversammlung, dann der 1848-er Revolutionär Dr. Friedrich Hecker aus Mannheim.
Valentin Müller
In die bis zur Wahlrechtsreform 1905 stärkste Landtagsfraktion der Nationalliberalen rückte 1899 der 43-jährige Landwirt Valentin Müller (1856-1919) aus Heiligkreuz als Wahlkreisvertreter ein. Er gehörte der Badischen Ständeversammlung bis Kriegs- und Monarchieende 1918 an. Müller war in Ritschweier geboren, hatte die Volksschule in Rippenweier, das Bender’sche Institut in Weinheim und das Realgymnasium in Karlsruhe besucht, musste nach dem Unfalltod seines Bruders aber die heimische Landwirtschaft in Heiligkreuz übernehmen, die bis heute im Reiterhof Müller im Wiesental fortbesteht. Von 1903 bis 1907 war Ur-Großvater Valentin Müller Mitglied des Deutschen Reichstags für den badischen Wahlkreis Wiesloch-Bretten-Sinsheim und die Nationalliberale Partei (NLP). In Rippenweier gehörte er dem Gemeinderat an, in Weinheim dem Bezirksrat. Groß war Müllers Engagement in landwirtschaftlichen Organisationen: Vorstand im Landwirtschaftlichen Konsumverein Rippenweier, Obmann in der Pferdezucht-Genossenschaft, Vorstandsmitglied im Landwirtschaftlichen Bezirksverein Weinheim, Aufsichtsratsmitglied der Landwirtschaftlichen Zentralkasse Baden.
Valentin Müller hat auf dem Friedhof in Heiligkreuz ein Ehrengrab wie Generalmajor Fritz Berendsen, der in den 1950-er und 1960-er Jahren im Deutschen Bundestag erst den Wahlkreis Duisburg, dann den Wahlkreis Mannheim-Land II vertrat und dem NATO-Verteidigungsrat angehörte.
Richard Freudenberg
Auf das Großherzogtum Baden folgte, nach dem Thronverzicht von Großherzog Friedrich II. am 13. November 1918, die einen Tag später von einer provisorischen Regierung ausgerufene Freie Republik Baden. Am 5. Januar 1919 wurde eine Verfassunggebende Landesversammlung gewählt. Wahlsieger wurde die SPD mit 32,1 Prozent Stimmenanteil vor der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) mit 22,8 Prozent.
Die DDP-Fraktion führte der Mannheimer Friedrich König. Als er im November 1919 ausschied, wurde der Weinheimer Unternehmer Richard Freudenberg (1892-1075) sein Mandats-Nachfolger. Mit 27 Jahren war er der Benjamin unter den Landtagsabgeordneten. Von 1919 bis 1924 war Freudenberg Abgeordneter und DDP-Sprecher im Haushaltsausschuss des Landtags, aus dem er 1924 ausschied, nachdem 1923 sein Vater Hermann Ernst Freudenberg gestorben war und Richard mit Vetter Walter und den Brüdern Hans und Otto im Unternehmen Verantwortung übernehmen musste. Der Landespolitik blieb er, der stets die politische und gesellschaftliche Verantwortung des Unternehmers betonte, weiter verbunden als geschäftsführender Vorsitzender der DDP in Baden bis 1933, als parteiloser Abgeordneter im Ersten Deutschen Bundestag, als Gründungsmitglied der Deutschen Wählergesellschaft 1947 und als Motor der Bestrebungen zur Bildung eines Südweststaats.
Karl Fichtner
Der Verfassunggebenden Badischen Landesversammlung gehörte 1920/21 auch der Weinheimer Sozialdemokrat Karl Fichtner (1875-1959) an, der, wie Freudenberg, 1919 ins Stadtparlament gewählt worden war und danach vom Gemeinderat zum Amtsstellvertreter von Bürgermeister Dr. Karl Alexander Wettstein. Auch Fichtner war im ersten badischen Landtag ein Nachrücker: er übernahm im März 1920 das Mandat des ausscheidenden Mannheimer SPD-Abgeordneten Johann Roth. Karl Fichtner war gelernter Schlosser, führte dann als Wirt den „Zähringer Hof“ (heute Möbel-Oberst) an der Sulzbacher Landstraße (heute Bergstraße) und arbeitete danach als beamteter Bademeister im Volks- und Schülerbad in der Friedrichschule. Aus politischen Gründen wurde er im März 1933 mit dem nationalsozialistischen „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ aus städtischen Diensten entlassen, vom Gemeinderat aber am Jahresende als Angestellter wieder in den Dienst der Stadt übernommen: als Maschinist bei den Gas- und Wasserwerken, den heutigen Stadtwerken.
Die Landtagswahl 1929 brachte zwei Weinheimer in den letzten frei gewählten Landtag, die von den (entgegengesetzten) Rändern des Parteienspektrums kamen und die Felder markierten, auf denen sich zunehmend auch in Weinheim die politische Auseinandersetzung vollzog: den Kommunisten Robert Klausmann und den Nationalsozialisten Walter Köhler.
Robert Klausmann
Robert Klausmann (1896-1972) war als jugendlicher Lederarbeiter 1910 nach Weinheim und zu Freudenberg gekommen. 1920 wurde er Mitglied der KPD, 1922 zog er in den Weinheimer Bürgerausschuss ein, 1926 in den Mannheimer Kreistag. 1927 leitete Klausmann die Weinheimer Verwaltungsstelle des Lederarbeiterverbandes. 1929 wurde er in den Landtag der Republik Baden und beim XII. Parteitag der KPD in Berlin ins Zentralkomitee gewählt. 1932 war Klausmann Politischer Leiter des KPD-Bezirks Baden-Pfalz, bei Freudenberg agitierte er als Betriebsrat der KPD-nahen Revolutionären Gewerkschafts-Opposition. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde Klausmann in Haft genommen, im Oktober 1933 gelang ihm die Flucht aus dem KZ Kislau nach Frankreich. Nach dem Einmarsch der Deutschen setzte er sich nach Südfrankreich ab und schloss sich der Résistance an Nach Kriegsende kehrte Robert Klausmann nach Weinheim zurück und wurde am 27. Januar 1946 in den ersten Nachkriegs-Gemeinderat gewählt. Kurz danach verließ er Weinheim, wurde Landesdirektor für Arbeit und Soziales in Karlsruhe, Mitglied der Vorläufigen Volksvertretung und der Verfassunggebenden Landesversammlung Württemberg-Baden, von 1948 bis 1950 gehörte er dem Landtag an. 1948 wurde Klausmann in Karlsruhe entlassen und arbeitete am Ende seines Berufslebens als Parteisekretär der KPD in Stuttgart und Karlsruhe.
Walter Köhler
Nach dem 6. November 1929, dem Tag der Landtagswahl, saßen im Badischen Landtag erstmals sechs Nationalsozialisten. Wesentlichen Anteil am Wahlerfolg der NSDAP hatten die Weinheimer Wähler, die den Nationalsozialisten 26,7 Prozent Stimmenanteil (Baden: 7,0 %) beschert hatten. Das brachte dem Weinheimer Ortsgruppenleiter Walter Köhler (1897-1989) einen Sitz im (eigentlich verhassten) Landtag und den Fraktionsvorsitz ein. Köhler, aus der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) Weinheim hervorgegangen, war seit 1926 Stadtverordneter der NSDAP und wurde mit der Landtagswahl zum zweitwichtigsten badischen NS-Politiker neben Gauleiter Robert Wagner. Die Beiden sollten die Geschicke der badischen Ministerialbürokratie nach 1933 entscheidend prägen: Wagner als Reichsstatthalter und Köhler als Ministerpräsident, Wirtschafts- und Finanzminister, ab 1942 auch als Innenminister. Von 1933 bis 1945 vertrat Köhler den Wahlkreis Baden im (funktionslosen) Deutschen Reichstag. Nach der deutschen Besetzung des Elsass wurde Köhler 1940 Chef der Zivilverwaltung. Als er sich bei Kriegsende weigerte, Karlsruhe zu verlassen, schloss ihn Wagner aus der NSDAP aus und ließ gegen Köhler ein Ermittlungsverfahren einleiten.
Walter Köhler verbrachte die ersten drei Nachkriegsjahre in Internierungslagern, trat als Zeuge im Nürnberger Krupp-Prozess auf und wurde 1948 von der Spruchkammer Karlsruhe als „Minderbelasteter“ eingestuft, in einem Berufungsverfahren als „Belasteter“. Die dreijährige Arbeitslager-Strafe galt durch die Internierung als verbüßt. Seinen Lebensabend verbrachte Köhler in Weinheim. Die ihm 1933 verliehene Ehrenbürgerwürde wurde ihm 1945 wieder entzogen.
(2021)