Der Maler Albert Emil Kirchner (1813-1885)
Ein Münchner in Weinheim

von Benno K. Lehmann

Mit der Entwicklung Weinheims in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Amts- und Industriestadt entstanden neben dem ansässigen Adel ein gebildetes und kulturell interessiertes Bürgertum. Dies führte dazu, dass immer wieder auswärtige Künstler nicht nur aufgrund der landschaftlichen Lage die Stadt besuchten, sondern auch in der Hoffnung, den einen oder anderen Auftrag zu erhalten.

Zu diesen Künstlern gehörte auch der Architektur- und Landschaftsmaler Albert Emil Kirchner. Er wurde als Sohn des Tischlermeisters Johann Andreas Wilhelm und seiner Ehefrau Christiane Johanne Sophie am 13. Mai 1813 in Leipzog geboren. Hier besuchte Emil Kirchner zunächst die lateinische Schule Sankt Thomas und ab dem 13. Lebensjahr für zwei Jahre die von Direktor Geutebrück geleitete Bauschule. Doch der Sohn wollte Maler werden und auf sein Drängen hin erlaubte ihm der Vater seit 1828 den Besuch der Leipziger Kunstakademie, die damals unter der Leitung von Hans Veit Schnorr von Carolsfeld (1764-1841) stand, dem Vater des bekannten Malers Julius Schnorr von Carolsfeld (1794-1872). Hier nahm sich vor allem der Lehrer Friedrich Brauer des jungen Künstlers an und unterrichtete ihn im Zeichnen und half bei der Wiedergabe von anatomischen Studien. Zur Fortsetzung seiner Ausbildung ging Emil Kirchner drei Jahre später nach Dresden. Als Schüler der Akademie wurde er hier von Christian Clausen Dahl (1788-1857) und Caspar David Friedrich (1774-1840) in der Malerei unterrichtet. Letzterer trug entscheidend dazu bei, dass Kirchner, sehr zum Ärger seines früheren Lehrers Friedrich Brauer, jetzt Landschaftsmaler werden wollte.

Um neue und andere allgemeine Tendenzen in der Landschaftsmalerei kennenzulernen, ging Kirchen zur weiteren Ausbildung im Oktober des Jahre 1832 nach München, mußte aber seine Aufenthalt schon am 9. Juli 1833 wieder abbrechen, um in seiner Vaterstadt Leipzig den einjährigen Militärdienst abzuleisten. Danach erhielt Kirchner von Dr. Puttrich, dem Verfasser der "Denkmale der Baukunst des Mittelalters in Sachsen", herausgegeben in Leipzig 1836, einen umfangreichen Auftrag zur Illustration des Werkes.

Die Ausführung war für den Künstler mit zahlreichen Reisen verbunden, die ihn u.a. nach Arnstadt, Bernburg, Eisenach, Merseburg, Naumburg, Freiberg und Erfurt führten. In dieser Zeit entstanden auch die zwei Radierungen mit der Sixtkirche in Merseburg und dem Bartholomäuskloster zu Zerbst). Die Auseinandersetzung mit der Architekturdarstellung und der Wiedergabe von Stadtansichten hatte zur Folge, dass sich Kirchner immer stärker der Architekturmalerei zuwandte, die damals eine eigenständige und bedeutende Bildgattung darstellte.

Enge freundschaftliche Beziehungen entwickelten sich auch während dieser Leipziger Jahre zu den beiden dort tätigen Malern Bonaventura Genelii (1798-1868) und Friedrich Preller (1804-1878). Genelli, der aus Rom, und Preller, der aus Weimar gekommen war, arbeiteten hier seit 1832 an dem großen Freskenauftrag des Verlagsbuchhändlers Dr. Hermann Haertel in dessen römischer Villa. Während Preller seine Arbeit 1834 vollendete, kam es zwischen Genelli und dem Auftragggeber zu einem Zerwürfnis, so dass dessen Fresken unfertig blieben. Genelli zog daraufhin in die Kunstmetropole München. Ihm folgte aufgrund der freundschaftlichen Kontakte wenig später Emil Kirchner, der dort am 7. November 1836 zum zweiten Male eintraf. Eine Eintragung zur Fortsetzung des Studiums an der "Koeniglich Bayerischen Akademie der bildenden Künste" ließ sich nicht nachweisen. Lediglich die Mitgliedschaft im Münchner Kunstverein, in dem er eine große Anzahl seiner Gemälde ausstellte.

Die ersten Malerreisen von München aus führten nach Tirol. Nach seiner Heirat mit Therese Ludovike Zeller im Jahre 1840 besuchte er mehrmals Oberitalien und hier insbesondere die Städte Trient, Verona, Venedig und Florenz. Vom 31. Oktober 1844 bis 25. November 1845 erfolgte zusammen mit dem Malerkollegen Carl Gottfried Pfannschmidt (1819-1887) ein einjähriger Aufenthalt in Rom.

Seit 1852 hielt Kirchner sich wiederholt in Heidelberg auf und fertigte hier von der Schloßruine zahreiche Zeichnungen an, die als Vorlage für eine Reihe von Gemälden mit dem Ottheinrichbau (erbaut 1556-1559) und dem Friedrichsbau (erbaut 1601-1611) dienten. Drei seiner uns derzeit bekannten Heidelberger Gemälde verkaufte er an den bayerischen König Ludwig I (1786-1868). Das königliche Interesse an diesen Bildern basierte zum einen auf dem Verhältnis, das König Ludwig zur Stadt Heidelberg hatte, die er zwei Mal 1810 und 1816 besuchte und zum anderen auf dem territorialen Verlust der Nordpfalz an das Haus Baden, mit dem sich der König nicht abfinden konnte. Noch 1818 nach dem Tod des Großherzogs Carl (1786-1818) und dem Aussterben der echten Zähringer rechnete Ludwig mit einer Wiederangliederung an Bayern, was sich jedoch nicht erfüllte.

Mit einer großen Zeichnung, die den Blick in den Innenhof des Heidelberg Schlosses zeigt, beteiligte sich Kirchner an dem Heidelberg Friedrich-Luisen-Album von 1856. Der Darstellung ist vom Künstler auf einem gesonderten Blatt der folgende erläuternde Text beigegeben: "Der kunstsinnige Kurfürst Otto Heinrich schuf 1556-1559 den herrlichen Bau, der noch heute seinen Namen trägt, und zierte ihn mit Statuen und Inschriften, die zum Theil die Zeit der Verwüstung überdauert haben. Sein dritter Nachfolger Friedrich IV. fügte bis zum Jahre 1607 den reich geschmückten Bau hinzu, den nach dem Schloßhofe hin die Bildsäulen pfälzischer Kurfürsten zieren". Das Ungewöhnliche an dieser Zeichnung ist, dass Kirchner die Ruine als völlig intaktes Schloß wiedergibt, während die Gemälde im Besitz von König Ludwig I. den ruinenhaften Zustand zeigen. Hier verbindet der Künstler den Gegensatz der Vergänglichkeit eines Bauwerkes mit der Dauer der Natur zu einem Kunstwerk.

Während des Aufenthaltes in Heidelberg 1857 besuchte Kirchner auch die Stadt Weinheim. 1862 hielt sich der Künstler nochmals in Verona auf und fertigte hier eine sorgfältig durchgestaltete Zeichnung an, mit Blick vom Giardino Guisti auf die Stadt. Das danach ausgeführte Gemälde erwarb der Sammler und Kunstmäzen Graf Adolf Friedrich von Schack (1815-1895).

Neben der Malerei beschäftigte sich Emil Kirchner auch immer wieder mit Buchillustrationen. Als die Cotta'sche Buchhandlung zum Schillerjubiläum 1859 eine Prachtausgabe mit Gedichten herausbrachte, liefert Kirchner sieben Zeichnungn dazu, die fotomechanisch vervielfältigt wurden. Darüberhinaus fertigte er eine Reihe vorzüglicher Aquarelle für ein Album an, das von der "Gesellschaft der bayerischen Ostbahnen" für ihren damaligen Direktor Herrn von Denis gewidmet wurde. 1876 brachte die Bruckmann'sche Verlagshandlung in München "Italiens Städte und ihre Umgebung" in Wort und Bild heraus, wozu neben Friedrich Eibner (1823-1877), Ludwig Passini (1832-1903) und Ferdinand Wagner (1847-1927) auch Emil Kirchner Aquarelle von Venedig lieferte, mit jenem "wunderbaren Lichtzauber der über den Lagunen liegt".

Bemühungen Kirchners, den Radierverein in München wieder einzuführen, scheiterten an dem allgmeinen Desinteresse seiner Malerkollegen. Im Jahre 1869 war Kirchner für längere Zeit erkrkankt. Danach berichtet die "Zeitschrift für bildende Kunst": "Kirchner, der lange Zeit hindurch nicht unbedenklich krank war, stellte eine große Vedute von Florenz aus, hell und klar in der Farbe, wie alle Bilder dieses Künstlers trefflich in der Zeichnung und, wenn auch die Licht- und Schattenmassen nicht fest zusammengehalten waren, im Ganzen doch von einer gewissermaßen einschmeichelnden Wirkung". Nach seiner Genesung reiste er nochmals nach Tirol und erstellte hier zahlreiche Landschafts- und Architekturzeichnungen. Zweiundsiebzigjährig verstarb Emil Kirchner am 4. Juni 1885, nach einem schaffensreichen Leben, in München.

Wie bereits erwähnt, hielt sich Emil Kirchner 1857 in Weinheim auf und fertigte hier nach einem zeichnerischen Entwurf, dessen Verbleib unbekannt ist, eine große, sorgfältig ausgearbeitete und topographisch genaue Ansicht der Stadt von Süden an, die sich heute im Museum von Weinheim befindet. Wohl nach Vorlage dieser Arbeit beim Freiherr Christian Friedrich Gustav von Berckheim (1817-1889), erhielt Kirchner den Auftrag zu ihrer Umsetzung in ein großes Ölgemälde.

Der Reiz dieser Stadtansicht liegt in der Verbindung von Landschaft und Architektur. Hinzu kommt, dass sie Weinheim von demselben Standort aus gesehen wiedergibt, wie der Merian-Stich um etwa 1620 und der Kupferstich von Jakob Rieger (1754-1811) aus dem Jahre 1787 34).

In der Bildmitte des Gemäldes erhebt sich der hohem das Stadtbild beherrschende Turm der Laurentiuskirche, erbaut 1850 nach einem Entwurf des Großherzoglich Badischen Baudirektors Heinrich Hübsch (1795-1863). Davor liegt der im 18. Jahrhundert für die Ulner von Dieburg erbaute Schloßflügel, der nun 1857 im Besitz des Freiherrn Christian von Berckheim ist 35). Angehörige seiner Familie gehen in dem von Friedrich Ludwig von Sckell (1750-1823) 36) im englischen Stil angelegten Schloßpark spazieren. Nach links schließt ein ebenfalls dem Freiherrn von Berckheim gehörender Nutzgarten an, in dem sich der neoklassische Bau des Freiherrlichen Rentamtes mit Portikus und Dreiecksgiebel erkennen läßt.

Links hinter dem Rentamt das Gebäude der 1851 errichteten Freudenberg'schen Lacklederfabrik, die sich in das Gesamtbild harmonisch einfügt. Dahinter etwas weiter in der Ebene das Weinheimer Bahnhofsgebäude der 1846 eröffneten Main-Neckar-Bahn. Rechts im Mittelgrund das heute nicht mehr vorhandene Müllheimer Tor. Auch die Dachreiter des Rathauses und der Peterskirche lassen sich ebenso erkennen wie die spitze Dachpyramide des Roten Turmes und das von Bäumen teilweise bedeckte Obertor in der Mildmitte. Die breit angelegte Vordergrundzone, getrennt durch einen Hohlweg der in Richtung Stadt verläuft, ist durch zahlreiche Stafffagefiguren belebt. Bei der kleinen Jagdgesellschaft rechts im Bild handelt es sich wohl um den Auftraggeber mit Freudnen. Die übrigen Personen gehen ihrer bäuerlichen Arbeit nach. Vom rechten Bildrand aus ziehen sich die Höhen des Odenwaldes mit der Burg Windeck im Vordergrund und der etwas nördlich gelegenen Starkenburg in die Weite des Bildraumes. Tief in der Ebene ist noch das Rothschild'sche Schloß in Hemsbach zu erkennen und in der Ferne die Kuppe des Melibokus. Der Blick wird durch die Hügelkette suggestiv in die Tiefe bis an den Horizont geführt. Über Stadt und Landschaft liegt das warme Licht eines frühherbstlichen Septembernachmittages. Luft und Licht verbinden alles zu einer atmosphärischen, stimmungsvollen Einheit.

 

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