1945: Das Jahr, in dem der Krieg zu Ende ging

1945 endete die Kriegszeit, die Nachkriegszeit begann

von Heinz Keller

Im neuen Jahr 2020 haben wir allen Grund und zahlreiche Möglichkeiten, uns dankbar daran zu erinnern, dass wir seit 75 Jahren im Frieden leben dürfen – so lange wie keine Generation vor uns. Doch der Rückblick auf das Jahr 1945 in Weinheim macht auch deutlich, wie schwierig und wie schmerzlich der Weg zum Ende dieses elenden Krieges war. Er war von Hunger und Not, von Schmerzen und von Tränen begleitet.

Die Gräber der auf dem Jahnplatz getöteten vier Buben

Die Gräber der auf dem Jahnplatz getöteten vier Buben und von Paul Piche (rechts außen).
Bild: WN-Archiv

Tod auf dem Jahnplatz

Ein besonders schicksalhafter Tag unter den letzten 87 Tagen des sinkenden Hakenkreuzes war der 16. Februar 1945, als auf dem Jahnplatz im Prankel (heute Wohnbebauung Carl-Diem-Straße) die vier Schüler Hanspeter Burger (14), Rudi Sauer (13), Claus Ernst Glock (11) und Hermann Philipp Gumb (8) den schützenden Stollen im Hang des Jahnplatzes nicht mehr erreichten und Opfer eines Angriffs anglo-amerikanischer Jagdbomber (Jabos) auf den Weinheimer Güterbahnhof wurden. Tödlich getroffen von den Splittern der beiden Bomben, die ein aus dem Pulk der tief fliegenden Maschinen ausgescherter Jabo über dem Jahnplatz abwarf, wurden ein in der Jahnstraße (heute Brückstraße) mit dem Ausputzen von Platanen beschäftigter französischer Kriegsgefangener aus dem kleinen Lager in der Turnhalle der TG Jahn 1878 und der 50-jährige Weinheimer Paul Piche in seinem Kleingarten auf dem Tafelacker.

Bis zum Einmarsch der Amerikaner am 28. März blieben diese Tiefflieger-Angriffe eine ständige Bedrohung der Weinheimer: auf der Straße, im Garten, auf Äckern und Wiesen. Die Terrorisierung der Zivilbevölkerung war ein erklärtes Ziel der psychologischen Kriegsführung der Alliierten. In Weinheim kostete sie in den letzten Kriegswochen noch Dutzenden von Soldaten und Zivilisten das Leben.

Parteiakten im Feuer

Neu im Straßenbild waren seit Herbst 1944 die Angehörigen des Volkssturms, der auch in Weinheim aus bislang nicht zum Kriegsdienst eingezogenen 16- bis 60-Jährigen zusammengestellt wurde und im Saal des Alten Rathauses (heute Bürgersaal) kaserniert war. Seine Hauptaufgabe war der Wachdienst an den Panzersperren, die an den Stadtausgängen errichtet worden waren. Die Wachmannschaften wurden mit Stahlhelm, Gewehr, Patronen, Koppel und SA-Mantel ausgestattet.

Es gab für den „kasernierten Volkssturmdienst“ aber auch Sonderaufgaben wie die nächtliche Bereitstellung zweier mit (Flucht?)Benzin gefüllter Kanister am Haus des NSDAP-Kreisleiters oder am 23. März die Vernichtung sämtlicher Parteiakten und der Einwohnerkartei. Aus dem dritten Geschoss des Schlosses wurden die Akten heruntergeworfen, zum Kesselhaus der nahen Lackierfabrik gekarrt und dort verbrannt.

Der Volkssturm wurde am 26. März aufgelöst: mit Duldung des Beigeordneten Friedrich Bartels, der seit 1940 den zum Wehrdienst eingezogenen Bürgermeister Dr. Reinhold Bezler als Verwaltungschef vertrat. Damit konnte eine Gruppe mutiger Männer um Richard Freudenberg den heranrückenden Amerikanern signalisieren, dass Weinheim militärfrei sei und nicht verteidigt werde.

Kritische Situation

Die kampflose Übergabe der Stadt, die Richard Freudenberg anstrebte, geriet allerdings am 27. März noch einmal in Gefahr, als bekannt wurde, dass sich im „Haus der Stadt Weinheim“ an der Bismarckstraße, der ehemaligen Villa des jüdischen Fabrikanten Julius Hirsch, ein Militärkommando niedergelassen hatte mit der Aufgabe, die sich aus dem Birkenauer Tal zurückziehenden Truppen zu sammeln und mit ihnen Weinheim zu verteidigen. In „sehr schwierigen Gesprächen“ (Freudenberg) und mit dem Angebot von 60 Litern Benzin konnte der Abzug der Soldaten erreicht werden.

Weiße Fahne am Schlossturm

Am Morgen des 28. März 1945 rückten die amerikanischen Streitkräfte über die Mannheimer Straße und die Bergstraße in die Stadt ein, am Schlossturm wehte die weiße Fahne und Beigeordneter Bartels übergab die Stadt an die Amerikaner, die ihr erstes Hauptquartier im Gästehaus der Firma Freudenberg an der Freudenbergstraße einrichteten.

Der für Weinheim glückliche Kriegsausgang geriet noch einmal in Gefahr, als im Müll und am Geiersberg vereinzelt Widerstand geleistet wurde. Sechs deutsche und zwei amerikanische Soldaten verloren dabei ihr Leben. Am 29. März war der gesamte Weinheimer Raum unter amerikanischer Kontrolle.   

Bedeutungslose Beschlüsse

Da interessierte niemanden mehr die letzte Sitzung der (von der NSDAP bestimmten) Ratsherren, die am 23. Januar noch einen Haushaltsplan für 1945 beschlossen und eine Entscheidung über die Verfügung des Landrats zur Unterbringung von 11.000 „Luftkriegsgeschädigten“ zurückgestellt hatten „bis die militärische Lage sich entspannt hat“.

Nicht mehr aktuell waren auch die Pläne, die Bezirkssparkasse Weinheim nach Wertheim auszulagern, höchst aktuell aber blieben die Ausfälle in der Brennstoffversorgung, die nur in bescheidenem Maß durch die Selbstversorgung der Bevölkerung aus den heimischen Wäldern ausgeglichen werden konnten.

Nach dem Krieg das Chaos

Der Krieg war zu Ende, aber das Chaos, das man vorausgesehen hatte, war viel größer als man es sich vorstellen konnte. Es brach über alle herein, die in diesen Tagen auf der Flucht vor dem Schrecken waren, auch über die Fremden, die in Weinheim auf Befreiung und Heimkehr gewartet hatten wie die ausländischen Zwangsarbeiter in den Indu-striebetrieben oder die  jungen Russinnen in der DJKTurnhalle. Sie alle mussten, wie ihre deutschen Nachbarn, im Gerberbachviertel die Luftschutzkeller aufsuchen, als 3 Glocken seinen Nudelvorrat zur Bäckerei Schmiedel brachte, um ihn vor Plünderungen zu schützen.

„Fringsen“ auch in Weinheim

Geplündert und gestohlen wurde viel in den ersten Wochen der Nachkriegszeit. Man empfand kein Unrecht beim Klettern auf Güterwaggons oder beim Bestehlen der Besatzungssoldaten, wenn man fror, weil es keine Kohle und keine Textilien gab. Es war die Zeit, als ein Kardinal in Köln den Mundraub erlaubte. In seiner Silvesterpredigt 1945 sprach der Kölner Erzbischof Joseph Frings über die zehn Gebote. Zum 7. Gebot „Du sollst nicht stehlen“ meinte er: „Wir leben in Zeiten, da in der Not der Einzelne das wird nehmen dürfen, was er zur Erhaltung seines Lebens und seiner Gesundheit notwendig hat, wenn er es auf andere Weise, durch seine Arbeit oder durch Bitten, nicht erlangen kann“. Die hungrigen und frierenden Weinheimer ahnten im Chaos der Nachkriegstage wohl voraus, dass „fringsen“, also stehlen aus blanker Not, in diesen Tagen mit göttlichem Verständnis rechnen durfte.                   –ell

Einen Rückblick auf die zweite Jahreshälfte 1945 finden Sie hier …

Aus den Erinnerungen von Richard Freudenberg

Das wichtigste Jahresdatum 1945 war der 28. März, als die Amerikaner Weinheim kampflos einnahmen. Es lohnt sich immer wieder, in den Erinnerungen von Richard Freudenberg nachzulesen, wie dieser Tag in Weinheim ablief. „In enger Fühlungnahme mit Oberstleutnant Weygand, der maßgebenden Einfluss auf die militärische Leitung im Weinheimer Bereich hatte, ist es gelungen zu erreichen, dass Weinheim nicht militärisch verteidigt wurde. Die Truppen bekamen den Befehl, sich nach dem 20. März aus Weinheim und von den beherrschenden Höhen Hirschkopf und Wachenberg zurückzuziehen.“

Am 26. März wurde der Volkssturm aufgelöst.  Mit taktischem Geschick, so schildert es Richard Freudenberg in seinen 1965 auf Wunsch von Oberbürgermeister Rolf Engelbrecht verfassten Erinnerungen an das Kriegsende, habe Poizeiwachtmeister Hermann Langer den Willen einzelner zum Widerstand überwunden. So konnten die heranrückenden Amerikaner rechtzeitig informiert werden, dass Weinheim militärfrei sei und nicht verteidigt werde.

Doch diese Aussage geriet am 27. März, als die Amerikaner bereits in Heppenheim standen, noch einmal in Gefahr. Richard Freudenberg, Carl Gustav Müller und Hermann Langer suchten im „Haus der Stadt Weinheim“ an der Bismarckstraße das Gespräch mit Oberleutnant Scherzinger, dem Führungsoffizier des Militärkommandos, das sich hier einquartiert hatte und Weinheim verteidigen wollte. „Herr Scherzinger fühlte sich, gerade weil er Weinheimer war, besonders gebunden, keine militärische Disziplinlosigkeit zu begehen“, erinnerte sich Richard Freudenberg  an „eine sehr schwierige Unterredung“, die ein für Weinheim glückliches Ende nahm, als Scherzinger das Angebot von 60 Litern Benzin zum Abzug aus Weinheim annahm.

Luftbild von Weinheim

Ein Luftbild vom dünn besiedelten Prankel aus den 1930-er Jahren zeigt in der Bildmitte (helles Feld) den Jahnplatz, am linken unteren Bildrand den Güterbahnhof (heute Fachmarktzentrum an der B 3). Die großen leeren Flächen in der linken Bildhälfte sind die heutigen Wohngebiete auf der Alten Lackierfabrik und nördlich der Kopernikusstraße, die größere Fläche unterhalb des Schlosses ist der ehemalige Schlossgarten (heute Luppert-Bauten) mit der Freudenbergstraße.
Bild: Stadtarchiv